12/10: LUCIA LIP, LINAIRE, CULK, YUKNO, LEOPARD - NEUE BLICKWINKEL - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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12/10: LUCIA LIP, LINAIRE, CULK, YUKNO, LEOPARD - NEUE BLICKWINKEL

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2020

Chuzpe ist das A und O beim Versuch, als Band nicht beliebig zu klingen. Also eine andere, nicht konventionelle Herangehensweise zulassen, obgleich dies auch die Gefahr absoluter Inakzeptanz in sich birgt.

Im besten Fall, und so macht es uns Lucia Lip auf ihrer EP "God" wunderbar vor, lassen sich einige anschmiegsame Momente in einen sonst bis auf die Knochen ausgezogenen Electro-Indie-Pop einbauen, sodass sich bei aller "weirdness", die von diesen Songs ausgeht, auch so etwas wie eine angenehme Gehörtapezierung stattfindet. Verantwortlich dafür zeichnet vor allem Lucia Lip selbst, die mit ihrer kleinen, aber feinen Stimme etwas entrückt wirkt, aber ganz genau zu wissen scheint, was sie tut. Sie will nicht das süße Pop-Sternchen mimen, sondern geht mit ihrer Musik (und auch ihren Liveauftritten) einen bewusst künstlerischen Weg, der sie davor bewahrt, in irgendeine Schublade gesteckt zu werden. Die vier Stücke "Into My Life", "What's On Your Screen", "Day By Day" und schlussendlich "God" leben von einer zurückgehaltenen Spannung. Die Songs wirken so, als wollen sie ausbrechen. Doch Lucia Lip erlaubt es ihnen nicht, sodass unter den brodelnden Bässen, pluckernden Beats und vagen Melodien Lucias Organ prachtvoll scheinen kann. Wo vor sieben Jahren ihr Album "Your Motor" noch ruppig und voller Electroclash-Dramen dahergekommen ist, wirkt "God" deutlicher ausgeglichener. Die Stichelei findet sich in den galant dargebotenen Texten und kommen fast schon harmlos lieblich rüber. Doch machen wir uns nichts vor: Lucia Lip ist eine Künstlerin durch und durch, und "God" nur eine Form ihres Ausdrucks. Da wird in Zukunft noch mehr kommen, sicherlich in wieder neuer Variation.

Es muss eben nicht der große Popanz und die "Wall Of Sound" sein, die begeistert. Manchmal ist genau das Gegenteil der Fall. Wie bei Linaires selbstbetiteltem Debüt. Schon das Eröffnungsstück "Feeling" wirft aktuelle musikalische Gepflogenheiten komplett über Bord. Eine Rhythmusmaschine von anno Tobak scheppert vor sich hin, dünne Akkordeon-Soundalikes lassen einen eher an ein schlechtes Demo als einen fertigen Song erinnern. Doch dann hebt Anna Atkinson, die Frau hinter Linaire, zum Singen an - und plötzlich ergibt alles einen Sinn. Ihr klanglicher Minimalismus ist kein reiner Selbstzweck, sondern verstärkt die intime Atmosphäre des Albums. Synthie-Pop unplugged, sozusagen. Ein bisschen erinnert man sich dabei auch an "Why Can't We Live Together", einem Soul-Juwel der frühen 70er Jahre von Timmy Thomas, das ähnlich sparsam arrangiert wurde, genauso wie man George McCraes Disco-Klassiker "Rock your Baby" als Vergleich heranziehen könnte. Linaire ist zwar weder Soul noch Disco, aber ihre Songs besitzen ebenfalls diesen dynamisichen Minimalismus. Dieser ist bisweilen so radikal, das er sich wie bei "Go In The Morning" ganz ausblendet und nur noch Atkinsons entrücktes Organ in transzendierender Überlappung übrig bleibt. "Linaire" ist ein besonderes Werk, das sich mit jedem weiteren Hören öffnet, und deren Songs einem nicht so schnell aus dem Kopf gehen. Diese musikalische Kleinode sind etwas ganz besonderes.

Mal wieder müssen wir neidisch auf Österreich blicken: Das Alpenvolk liefert seit einiger Zeit beständig gute Musik im subkulturellen Bereich. Die nächste im Bunde ist Sängerin Sophie Löw, die zusammen mit Johannes Blindhofer, Benjamin Steiger und Christoph Kuhn als Culk einen hochpoetischen Crossover aus Shoegaze und Post-Punk aufspielt. Nach dem von Kritikern hoch gelobten, selbstbetitelten Debüt von vor einem Jahr veröffentlicen sie nun ihr neuestes, rein deutsches Werk "Zerstreuen über euch". Die somnambul weggenuschelten Texte, von Löw so vorgetragen, als habe man sie gerade aus dem Tiefschlaf gerissen und vor ein Mikro gestellt, verdienen aber einer genaueren Betrachtung, greifen sie doch thematische heiße Eisen wie Gender-Rollen und Gewalt gegen Frauen auf. Wenn #metoo eine laute Bewegung ist, sind Culk ihre leisesten aber weitaus dringlicheren Vertreter, da sie die Unterdrückung der Frau wie in "Helle Kammer", "Nacht" oder "Jahre später" nie explizit und anklagend herausbrüllen, sondern in fokussierten kleinen Gesten intensivieren. Die umherwabernden Synthesizer, die teilweise explodierenden Gitarren und eben nicht zuletzt Sophies entrückt-distanzierter Gesang fügen sich zu einem post-traumatischen Gesamtbild, in der sich die einstige Normalität längst verabschiedet hat und die Frage nach möglichem (Rück)Halt beim lyrischen Ich keine Antwort mehr findet. Culk geistern durch ihre eigene Tristesse, tun dies aber mit einer unvergleichlichen Anmut und musikalischer Freude.

Und wo wir gerade bei unseren Nachbarn sind, verweilen wir doch noch ein bisschen dort - und gönnen uns das vielversprechende Projekt Yukno. Die schicken, ebenfalls wie die vorher besprochenen Culk, ihren Zweitling "Im Stream der Zeit" ins Rennen, der im anfänglichen "Plug Me In" noch extrem elektronisch klingen und durch die weibliche Computerstimme uns auf ein vermeintlich scharfkantiges Electro-Album einstimmen will. Tatsächlich sind Yukno aber so etwas wie die zynischen Feelgood-Popper, die vordergründig mit sanften Synthiesounds und entspannten Gitarrenriffs ein Stück heile Welt aufbauen, in Wirklichkeit aber Gift und Galle über unsere kaputte digitale Gesellschaft schütten, in der das Individuum zwischen Filterblasen, Insta-Stories und übermäßigen Pornokonsum eine neue Einsamkeit inmitten der sozialen Medien erfährt. Beispiel gefällig? "Montag ist ein guter Tag zum sterben. Da fängt die Woche grad erst an." So beginnt "Nie" mit fluffigen Electro-Pop, während das lyrische Ich quasi kurz davor steht, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen oder sich im Keller zu erhängen. "Im Stream der Zeit" veerankert in erster Linie die Vanitas-Motive nicht nur im Cover, sondern auch in den stets auf radiotaugliche dreieinhalb Minuten getrimmten Songs. Yukno erfüllen den Tatbestand melancholischen Denkens. Diesen verpacken sie allerdings mit dem den Österreichern so eigenwilligen Humor, der bei "Lass uns pretenden" auch in einen jugendsprachlichen Englisch-Deutsch-Kauderwelsch mündet. Bei Falco war das cool, hier ist es halt nerdig. Aber auch irgendwie geil.

Am Ende widmen wir uns einer EP, die bereits im Frühsommer dieses Jahres unters Volk gebracht wurde. "Mysterium" ist das erste musikalische Lebenszeichen der Formation Leopard aus Berlin. Und wenn man es nicht genauer wüsste, könnte man diese erfrischende Viererbande auch in eine Ära verorten, in der die heutige Hauptstadt noch einen "Eisernen Vorhang" besaß und auch sonst alles sehr trostlos wirkte. Nun gut, ein bisschen Zukunftsangst haben wir dank der Pandemie wieder, aber auch die gesellschaftlichen Umwälzungen sorgen nicht gerade für einen entspannten Blick nach vorn. "Mysterium" jedenfalls ist Post-Punk, wobei hier mehr Punk als Post zu vernehmen ist. Garniert mit abgefuckten Lyrics, die Sänger Lars Paprotta im Geiste Peter Heins (Fehlfarben) intoniert. Und mit "Zitrone" lebt auch der skurrile Humor der Frühphase der Neuen Deutschen Welle (die damals noch nicht so hieß) wieder auf. Aber mit dem Siebenminüter "Welt in dir" zeigen Leopard sich überraschend progressiv-rockig, lassen Geigen und traurig quäkende Klarinetten die Szenerie betreten und eine in Hall gepackte Gitarre jubilieren. Von da an merkt man: Diese Band ist mehr als der Zusammenschluss schmuddeliger Hinterhof-Rüpel-Jungs, deren Leben ein einziger Rock'n'Roll-Zirkus ist. Vielmehr haben wir es hier mit vier blitzgescheiten Musiker zu tun, die sich in vielen Spielarten zu Hause fühlen und selbstbewusst agieren. Da kann man sich auf die nächsten Veröffentlichungen ob den möglichen klanglichen Überraschungen nur freuen.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 17.11.2020 | KONTAKT | WEITER: IM GESPRÄCH: ROSI>

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Webseiten:
lucialip.bandcamp.com
www.linairesongs.com
culk1000.bandcamp.com
www.yukno.de
leopardmusik.bandcamp.com

Covers © Lipping Records (Lucia Lip), Capital Zero Records (Linaire), Siluh/Cargo (Culk), Humming Records/Membran (Yukno), Leopard

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