DAVID SYLVIAN & STEPHAN MATHIEU "WANDERMÜDE" VS. JUNGSTÖTTER "ONE STAR": SCHWEIGEN IST GOLD, SINGEN ABER AUCH - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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DAVID SYLVIAN & STEPHAN MATHIEU "WANDERMÜDE" VS. JUNGSTÖTTER "ONE STAR": SCHWEIGEN IST GOLD, SINGEN ABER AUCH

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Der Titel bietet Raum für Spekulationen: "Wandermüde" klingt nach Erschöpfung, nach "Burn-out". Erleben wir hier einen David Sylvian, dem der künstlerische Ausdruck nicht mehr gefiel und der, nachdem er mit seiner Gruppe Japan in den späten 1970er als Geburtshelfer für den hedonistischen New Romantic fungierte, einfach alles gesagt hatte? Zumindest lässt sich das Fehlen von Sylvians wunderbarer Stimme so erklären.

Ohnehin ist "Wandermüde" ein eigenartiges Gebilde. Das 2012 erschienene Werk greift auf die Klänge des wegweisenden Werks "Blemish", das rund zehn Jahre zuvor erschien zurück. Es war die Platte, auf dem sich Sylvian immer mehr vom Song als sinnstiftendes Konstrukt wegbewegte und klangliche Freiheiten einforderte. Damals improvisierten Derek Bailey und Christian Fennesz Stücke, über die Sylvian seine sehr persönlichen Texte vortrug. Es war eine schwere Zeit für den Musiker, der neben der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten auch die Trennung von seiner Frau Ingrid Chavez verarbeiten musste.

Der deutsche Klangkünstler Stephan Mathieu wurde von Sylvian beauftragt, das "Blemish"-Material neu einzuspielen. Mathieu nutzte dafür einen radikalen Ansatz: David Sylvian wird als Poet außen vor gelassen, aus den Improvisationen macht er eigenartig schwebende, statische Soundscapes. Drones und Gitarren sind die letzten Überbleibsel von "Blemish" die hier nun in breitwandigem, kontemplativem Dark Ambient eingewoben werden.

"Wandermüde" verzichtet dabei auf direkte Anspielungen auf die früheren Nummern. Mathieu dekonstruiert das vorhandene Material bis zur Unkenntlichkeit und gibt ihnen Titel, die nicht mit den Liedern von "Blemish" korrelieren. So entsteht ein völlig eigener, in sich geschlossener Klangkosmos, in dem vor allen Brummtöne wie bei "Dark Pastoral" und wießes Rauschen ("Saffron Laudanum") als Konstante bei der Erarbeitung der Songs eingesetzt wurden.

David Sylvian ließ bei der Entstehung von "Wandermüde" Stephan Mathieu anscheinend freie Hand. Anders lässt sich dieses recht eigensinnige wiewohl bezaubernde Werk, das eine gesonderte Stellung im Schaffen des Musikers einnimmt, nicht erklären. Nun wird es erneut als CD und erstmals auch auf Vinyl via Grönland Records veröffentlicht und bei beiden Formaten um einen Bonussong erweitert.

Wo der eine schweigt, singt der andere. Und wenn Fabian Altstötter alias Jungstötter singt, tun sich Hades und Himmel gleichzeitig auf. Sein Bariton wird gerne mit David Sylvian, aber auch mit Mark Hollis (Talk Talk) und Scott Walker verglichen. Nach seinem Aussscheiden bei der Indie-Pop-Band Sizarr erfand sich der Musiker komplett neu. "Love Is" von 2019 wurde zu einem inkommensurablen Meisterwerk und zum vielleicht besten Album der 2010er Jahre. Seine an die Mörder-Balladen eines Nick Cave angelehnten, schummrigen Songs matchten perfekt mit seinem Organ und brachte endlich wieder Eleganz und Grandezza in die Popmusik zurück. Ein perfekter Start.

Danach kam...Corona. Und für Jungstötter lebenseinschneidende Veränderungen. Nicht nur musste er sich mit den Folgen der Pandemie auseinandersetzen, die besonders für Künstler existenzbedrohend waren. Er zog auch in dieser Zeit von Berlin nach Wien um, um bei seiner Partnerin Anja Plaschg, bekannt als Soap & Skin, und ihrem Kind zu sein. Die neue Rolle des Stiefvaters on top setzte beim Musiker Denkprozesse in Gang, die ihn in eine persönliche Krise manövrierten, in einen "Meltdown" wie er es selbst beschrieb.

Ob diese äußeren Umstände dazu geführt haben. dass der zweite Longplayer "One Star" im Vergleich zum Erstling teilweise so zerrissen und aufgebracht klingt? Fast wirkt es so, als ob Jungstötter das innere Brodeln in seinen neuen Songs zu verarbeiten versucht. Zwar sind Stücke wie "Thrashers Swath" immer noch an die dunkelromantische Grundstimmung des Vorgängers gekoppelt. Doch durchsetzt er die fließenden Pianolinien und wehmütigen Bläser mit einer stolpernden Rhythmussektion, die wie kleine Widerhaken funktionieren. Auch "Nothing Is Holy" präsentiert eine neue Facette im jungstötter'schen Soundorbit. Unnatürliches Ächzen der Streicher und vertracktes Songwriting fordern den Hörer zur aktiven Teilnahme auf. Ebenso sucht "Ribbons" nach den ungehörten Klängen und schlägt unvorhersehbare Arrangements-Haken.

In diesem tönernen Tornado wirkt Jungstötter wie das Auge des Sturms. Seine der Wirklichkeit entrückte Stimme kommt einer Umarmung gleich, losgelöst von aller irdischen Pein. Sein Gesang schafft eine Atmosphäre der Geborgenheit, die sich gegen die aufbrausenden Akkorde und monströsen Songstrukturen aufbäumt. "One Star" geht nicht so leicht ins Ohr wie "Love Is", was aber vom Musiker beabsichtigt ist. Denn das Debüt war der erste Befreiungsschlag von seiner Sizarr-Vergangenheit und eine komplette Neuorientierung in Gesang und Stil. Dies glückte bekanntermaßen.

"One Star" vermeidet absichtlich eine Wiederholung des Erfolgsrezepts, weil Jungstötter nicht nur die Hörer, sondern auch sich selbst überraschen will. Weiterhin steht der Weltschmerz im Mittelpunkt, aber der Zugang zu ihr ist ein anderer, weitaus stürmischerer als noch "Love Is". Unzweifelhaft bleibt jedoch die Tatsache, dass der Mann aus der Pfalz eine belebende Ausnahmeerscheinung in der Popmusik ist, von der wir in Zukunft sicherlich noch einiges substantielles hören werden.

Gut zu wissen, dass die Erhabenheit in der Popmusik nicht ausstirbt. Auch wenn ihr vermeintlicher Höhepunkt bereits 40 Jahre her ist und selbst ein David Sylvian nicht unbedingt auf seine Zeit bei Japan reduziert werden möchte (und "Wandermüde" daher auch als Zeugnis seiner eigenen Neudefinition als Musiker gesehen werden kann), zeigt Jungstötter durch seine Kunst, wie wichtig damals diese Bewegung war und wie sie auch heute noch nachwirkt. Vor allem aber bildet sie ein nötiges Gegengewicht zur schnell konsumierbaren Gegenwartsmusik.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 02.05.23 | KONTAKT | WEITER: IM PROFIL - FINAL SELECTION>

Webseite:
www.davidsylvian.com
www.facebook.com/jungstotter

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COVER © GRÖNLAND RECORDS/ROUGH TRADE (DAVID SYLVIAN & STEPHAN MATHIEU), PIAS/ROUGH TRADE (JUNGSTÖTTER)

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