6/22: DEKAD, BALTES & ZÄYN, HIDDEN SOULS, WORKING MEN'S CLUB, M/A/T, BUZZ KULL - NACH(T)ARBEIT TEIL I - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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6/22: DEKAD, BALTES & ZÄYN, HIDDEN SOULS, WORKING MEN'S CLUB, M/A/T, BUZZ KULL - NACH(T)ARBEIT TEIL I

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2022
Dass mit dem guten Ding, das Weile haben will, hat das französische Electro-Projekt Dekad sicherlich wörtlich genommen. Zwischen ihrer vorangegangenen Veröffentlichung "A Perfect Picture" und dem aktuellen "Nowhere Lines" liegen ganze sieben Jahre dazwischen. Vieles hat sich in dieser Zeit getan: Ein mandarinenfarbiger Amerikaner mit unmöglicher Friese wurde Präsident und stürzte sein Land ins Chaos, Europa zeigt Auflösungserscheinungen und die Klimakatastrophe nimmt immer mehr Fahrt auf. "Nowhere Lines" nimmt indirekt Bezug auf die momentanen Entwicklungen. "I Know" klingt wie aus der Sicht eines Twentysomething, der sein ganzes Leben vor sich, aber keine Orientierung hat und sein Glück in einer "Artificial Love" sucht. Die Texte werden dem Albumtitel gerecht: In ihnen sind die Protagonisten und Ich-Erzähler schnurstracks auf dem Weg ins Nirgendwo, begleitet von einem schockgefrosteten Sound, der die psychologische Kühle von Seabound mit den klassischen Synthie-Pop-Stilelementen, die einst "Violator" von Depeche Mode zum kommerziellen Erfolg machten, verbinden. Trotz bekannter Zutaten bleibt "Nowhere Lines" immer überraschend und bedeutsam, weil die Songs wie mit einem Präzisionsmesser aus dem Soundgrundstoff herausgeschnitten wurden. Bei Dekad brodelt es gewaltig unter der Oberfläche, doch zu keiner Zeit lässt sich Mastermind J.B. Lacassagne dazu hinreißen, auszubrechen. So kann beispielsweise "A Deadly Show" trotz fordernder Beatabteilung wunderbar knapp unter der Oberfläche vor sich hinsimmern. Dekad hat auf ihrem fünften Album einen weiteren beachtlichen Meilenstein geschaffen, auf das man gerne sieben Jahre lang warten musste.

Wer in der Hochphase der Raving Society fleißig mitgetanzt hat, wird sicherlich den Namen Steve Baltes gehört haben, der mit seinem Hochgeschwindigkeits-Trance einige interessante Tracks ab 1994 abgeliefert hat. Auch nach dem Ende der Happy-Pappy-Ära blieb er der Musik treu; jetzt hat er zusammen mit dem aus Manila stammenden Lucian Zäyn unter dem Bandnamen Baltes & Zäyn ein erstaunliches Album auf die Beine gestellt. Die Liebe zu den analogen Musikmaschinen sowie zu ausladenden Klangteppichen sind Baltes nicht abhanden gekommen. "Blue Sunset" ist aber weniger ein Album geschrieben von zwei Musikern als von zwei großen Fans japanischer Manga-Comics und Horror-Filme. Ihre Songs beziehen sich auf verschiedene Anime-Serien und Grusel-Streifen, teilweise bei "The Dark Design" aufgezählt, und erweitern sie um die eigenen Gedanken des Duos, das versucht, eine Interpretation abzuliefern und zwischen den Zeilen zu lesen. Dies geschieht auf einem Weg, der zunächst hochgezogene Augenbrauen zur Folge hat. Zäyn singt mit starkem japanischen Akzent, rollendem "r" und erinnert ein bisschen an einen verrückten Professor oder Karaoke-Helden im Endstadium mit Glitzer-Jacketts und Alleinunterhalter-Ambitionen. Doch sie passt zur insgesamt surrealen und auch etwas cheesy Atmosphäre. Hat man sich mit dem extrem artifiziellen Gesang arrangiert, wird man schnell auf die Musik aufmerksam, die sich bei "A Song Of Your Name" angenehm sphärisch gibt. Dazwischen beweisen Baltes & Zäyn mit "Back! Back! Kaiju Attack!" nicht nur Humor, sondern auch, dass sie Post-Punk können. Tatsächlich ist "Blue Sunset" ein gelungenes Epos mit einer wohldosierten Portion Klangkitsch. Wenn man japanische Comic-Kunst liebt, wird man mit Baltes & Zäyn schnell warm und einer Meinung werden.

Wie Baltes & Zäyn sind auch Hidden Souls auf dem Label Echozone vertreten. Ansonsten verbindet die beiden Gruppen nicht viel, außer ihr Faible für elektronische Musik. Allerdings sind Hidden Souls soundtechnisch auf ganz anderen Wegen unterwegs. Das argentinische Projekt um Sänger und Gitarristen Leo Corden sowie den Musikern Guillermo "William" Pardo Neira und Alex Visonà wiederbeleben eine Stilrichtung, die in den letzten Jahren ihren einstige Vormachtstellung im Bereich dunkler Synthie-Musik einbüßen musste: Future-Pop, abschätzig auch als Weiber-Electro bezeichnet. Vielleicht lag es daran, dass der Markt einfach überschwemmt worden ist mit dieser Musik, sodass man ihr überdrüssig wurde. Nun machen Hidden Souls auf "All We Destroy" aber eben genau da weiter. Pessimistisch betrachtet, könnte man sagen, das Album sei mindestens 15 Jahre zu spät auf den Markt gekommen. Aber vielleicht hat es diese Distanz gebraucht, damit dieses Album gut zündet. Bereits "I Was There...", aber auch "Know Your Fears" leben von eingängigen Melodiebögen und erinnern an solche Altheroen wie Culture Kultür. Während die Songs auf musikalischer Ebene also hell erstrahlen, bleiben die Texte grüblerisch. "All That We Destroy" zeichnet ein düsteres wenngleich auch vorhersehbares Bild einer Menschheit, die im ständigen Zyklus von Aufbau und Zerstörung festhängt. All das in einen Sound eingebettet, der sich zwar an vielen Future-Pop-Bands anlehnt und deren Stilmittel übernimmt, sie aber nicht uninterpretiert lässt und damit immer noch einen eigenen klanglichen Kosmos schafft, der sich mit den nächsten Alben sicherlich noch weiter ausformen und verfeinern wird.

Was für ein Assoziationseldorado doch "19", der erste Song des genialen Albums "Fear Fear" von den Working Men's Club, dem Hörer veröffnet. Connaisseure wird Paul Hardcastles Prä-Techno-Nummer "Nineteen" in den Sinn kommen, andere werden, ganz aktuell, vielleicht an Covid-19, wie Corona offiziell ja heißt, denken. Letztere Überlegungen decken sich zumindest mit der klaustrophobischen Grundstimmung von "Fear Fear". Doch viel spannender von den Jungs aus Sheffield ist ihre offensichtliche Liebe für die große Poptradition ihrer Heimatstadt. Hört man sich "Widow" an, fühlt man sich sofort an den Dekadenwechsel 1979/80 erinnert, als Bands wie The Human League oder der Synthie-Pop-Außerirdische  Gary Numan einen völlig neuen Klang generierten. Die Zeiten maches es The Working Men's Club aber auch einfach. Krisen allerorten, es regiert die Angst. Dieser begegnen sie mit einem Sound, der bereits vor 40 Jahren funktioniert hat, als weiland die junge Generation von einer ähnlichen Zukunftsangst und Orientierungslosigkeit geplagt wurden. Doch bei all den maschinell induzierten Dystopien, wie sie im Titeltrack oder bei "Rapture" schonungslos durchdekliniert werden, lockern "Cut" und "Ploys" die Endzeit-Atmosphäre etwas auf. Sydney Minsky-Sargeant, der kreative Kopf hinter The Working Men's Club, klingt alterserfahren, seine Sounds wie die Rückbesinnung einer bereits zurückliegenden Karrieren. Tatsächlich zählt der Musiker aber gerade mal 20 Lenzen. Was beweißt, dass es nicht eine Frage des Alters ist, ob Musiker gut sind oder nicht. Es steckt einfach in einem drin. Und bei "Fear Fear" kommt es gewaltig zum Vorschein. Kurzum: eine inkommensurable Platte!

Befangenheit ist nicht gerade der beste Ratgeber, um einer Platte mit der größtmöglichen Objektivität zu begegnen. Denn Matthias Bischoff ist als umgänglicher Kollege bekannt, der mit seiner Promo-Agentur Add On Music die Redaktion mit schöner Regelmäßigkeit ansprechendes Musikmaterial zugesteckt hat. Während des Lockdowns hat er Zeit gefunden, eigene Songs zu komponieren, die er unter dem Moniker M/A/T veröffentlicht. Dass die erste EP "Jupiter" so ausgefuchst und rund klingt, liegt sicherlich nicht nur an der täglichen Arbeit mit Musik anderer Künstler, sondern auch an seiner Vergangenheit: Er war Gründungsmitglied der Synthie-Pop-Formation Cyber, die Anfang der 90er einige Achtungserfolge in der elektronischen Szene verbuchen konnten. Seine Vorliebe zu den rein synthesizerbasierten Songs hat bei ihmim Laufe der Dekaden nicht nachgelassen. Mehr noch: Mit "Jupiter" gelingt Matthias Bischoff quasi aus dem Stand ein wirklich beachtliches Debut. "Das Fundament" und "Liaison" fräsen sich in die Gehirnwindungen dank unnachgiebiger Rhythussektion, melodiösen Synthie-Sequenzen und - bei erstgenanntem Stück - perfekt assoziativ gehaltenem Text. Dagegen fokussieren sich die nachfolgenden Tracks "Nueva Esperanza" und der Titelsong auf eine dichte Atmosphäre. Vor allem "Jupiter" sucht als reines Instrumental nach einem Moment der Schwerelosigkeit. Hier zeigt sich deutlich, dass Bischoff ein Kind der 80er gewesen ist und die schummrigen Synthie-Popper zu jener Zeit einen massiven Eindruck auf ihn gemacht haben müssen. Dass er sich weitestgehend an die musikalischen Strukturen jener Zeit orientiert, macht die EP für Nostalgiker interessant. Im Club wird sich M/A/T sicherlich schnell größter Beliebtheit erfreuen.

Dorthin sollte es Marc Dwyer mit seinem Minimal-Wave-Projekt Buzz Kull schon längst geschafft haben. Schließlich zeichnet sich der Australier durch einen sehr ökonomischen Tanz-Sound aus, der nichts anderes will, als die Menge in den Clubs zum ausrasten zu bringen. Die Kunst besteht nun darin, gleichzeitig eingängige Stücke zu schaffen, ohne aber nur an der Oberfläche zu verweilen. Dazu gesellt sich dann beim Musiker eine kleine Portion Kaltschnäuzigkeit und Größenwahn. Denn sein Album "Fascination" zu taufen kommt der Selbstschenkung eines Lorbeerkranzes gleich. Allein: Er kann sich das erlauben. Schließlich besitzt sein neuestes Album ein entscheidendes Merkmal. Es klingt homogen, ohne vorhersehbar zu wirken. Im Rahmen seiner Möglichkeiten jongliert er mit den Möglichkeiten seines Genres, bleibt durchgehend tanzbar (abgesehen von den zweiminütigen Intermezzi "Beyond The Ceiling" und "Heaven Will Find Me", die nur wabernde Flächen zu bieten hat). Diese Kompromisslosigkeit ist bereits ungetrübt beim Opener "Rise From Your Grave" zu hören und zieht sich über das ganze Album hinweg. Anleihen an EBM und den dunkelektronischen Klassikern der späten 80ern und frühen 90ern dominieren das Klangbild, das in "Dancing With Machines" auch das textliche Pendant erhält. Der Tanz als ekstatisches Moment gedenkt Dwyer immer in seinen Songs auf musikalischer Ebene ein, manchmal singt er aber auch darüber. Deswegen werden sich DJs sicherlich über "Last In The Club" freuen. Einserseits, weil er natürlich für selbigen zugeschnitten ist (man hört ein bisschen "Irregular Times" von Mao Tse Tung Experience heraus), aber weil er auch den Blick auf die Clubbesucher richtet, die den Tanztempel natürlich auch als Kontaktbörse nutzen. Mit diesen Sounds kommt man sich schnell näher.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.11.2022 | KONTAKT | WEITER: PRIMER VS. DIE KERZEN VS. xPROPAGANDA>

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