SEI STILL "EL REFUGIO" VS. THE BLACK VEILS "CARNAGE" VS. LA MÉCANIQUE "L'OUBLI DES ORIGINES": KALTE WELLEN AUS ALLER WELT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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SEI STILL "EL REFUGIO" VS. THE BLACK VEILS "CARNAGE" VS. LA MÉCANIQUE "L'OUBLI DES ORIGINES": KALTE WELLEN AUS ALLER WELT

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Dieser rollende Bass, die greinenden Gitarren, das unbarmehrzige Schlagzeug: Alles bei "Extrarradio", dem Eröffnungsstück des zweiten Longplayers "El Refugio" der Band Sei Still greift tief in die Kiste mit taditionellem Post-Punk. Tatsächlich schwingt aber auch noch etwas anderes mit. Und dieses andere findet sich bereits auf ihrem selbstbetitelten Erstling.

Denn dass sich die das Fünfergespann um Sänger Lucas Martín einen deutschen Namen verpasst hat, liegt an ihrem Faible für den Krautrock. Die Alben "Hallogallo" von NEU! und Cans "Mother Sky" dürften damals Pate für das psychedelische Debut gewesen sein. Man höre sich einfach nur mal "Fortuna" an, eine haschumwölkte Hommage an den Düsseldorfer Fußballclub, inklusive motorischem Beat, stoischem Basslauf und abgedrehtem Gitarrenspiel. Die leicht dumpfe Aufnahmen verstärkt das Vintage-Gefühl. Nicht nur aufgrund dieses Liedes wuchs die Fangemeinde in Europa.

Und die wird sich nun aber damit abfinden müssen, dass die Kommune-1-Zeiten bei Sei Still erst einmal vorbei sind. Die Mexikaner durchlebten eine aufregende Phase ihres Lebens, die mit dem radikalen Schritt begonnen hat, ihre Heimat zu verlassen, um nach Berlin zu ziehen. Zusammen mit dem Beginn der Pandemie ist aus dem psychedelischen Gitarrensound ein expressionistischer geworden. Aus den schwebenden Nummern werden schwere Tracks, deren Weltschmerz und innere Anspannung förmlich mit den Händen greifbar ist.

Zwar frönen sie wie bei "Solsticio" immer noch einem redundanten Aufbau ihrer Songs, die hippieesken Schwingungen sind aber einem Gefühl der Beklemmung gewichen. Innerhalb eines Jahres hat sich der musikalische Kosmos von Sei Still deutlich verdunkelt -  was vielleicht als Antwort auf die drastischen Lebensveränderungen in Zeiten der Pandemie zu verstehen ist.

Jedenfalls grummelt und rumort es gewaltig auf "El Refugio", Lucas Martín greift in "Las Puertas De La Noche" auf einen eindringlichen, hypnotischen Gesangsstil zurück, der nur durch den dezenten Einsatz von Hall- und Echoeffekten abgemildert wird und nicht so stechend wirkt. Sei Still haben sich von veritablen Krautrockern in pessimistische Post-Punker verwandelt. Diese Metamorphose hat ihnen sehr gut getan.

Auch The Black Veil haben ihre dunkle Seite mit jedem weiteren Album ausgebreitet. Das liegt aber wohl in der Sache der Dinge. Denn der Sänger hat sich mit dem Namen Gregor Samsa eine der vielleicht tragischsten Literaturfiguren als Künstlernamen ausgesucht. Franz Kafkas bekannteste Geschichte "Die Verwandlung" um den Mann, der eines Morgens aus unruhigem Schlaf erwacht und feststellen muss, dass er in ein Ungeziefer verwandelt worden ist, gehört vielleicht zu den klaustrophobischsten Erzählungen der Neuzeit.

Von einer treibenden Furcht ist auch "Carnage", das dritte Album der Black Veils. Dieses haben sie noch vor den Wirren der Pandemie aufgenommen, doch die wütenden Sounds in "Cities On Fire", das The Clashs "London Calling" weiterdenkt und in einen Post-Punk-Rahmen setzt, wirken in der momentanen Situation noch intensiver und wie für Corona-Zeiten geschaffen. Für die Band aus Bologna indes war es wichtig, ihre Live-Energie auf Platte bannen zu können. Dass sie diese kurze Zeit später nicht mehr freien Lauf lassen werden, ahnte natürlich niemand.

Prototypische Nummern wie "Hyenas" oder "See You At My Funeral" verfolgen eine klare Klangästhetik, der sich über fiebrige Gitarrenparts, einem hart angeschlagenen Bass und druckvolle Schlagzeugbearbeitung definiert, die in prägnante Kompositionen von kaum mehr als vier Minuten gepresst werden. "Looking For A Fight" ist demnach nicht nur eine Zeile in "This Is Going To Hurt", sondern auch ihr musikalisches Credo. Ihr bis zur Kante mit Adrenalin gefüllter und auf Krawall gebürsteter Sound lässt dabei keine Pause zu, auch wenn "September Kills" den Fuß ein bisschen vom Gaspedal nimmt. Doch selbst in diesen Momenten merkt man die innere Anspannung.

Es ist aber nicht nur der gehetzte Sound, sondern auch Sänger Gregor selbst, der über die nötigen Skills verfügt, um den Hörer am Gerät festzuhalten. Selbst kurze Sprechgesangseinlagen meistert er ohne dabei an Kredibilität zu verlieren. Ansonsten besitzt sein alertes Organ eine ähnliche Dringlichkeit wie Jaz Coleman von The Killing Joke. Solch ein stimmliches Talent fügt sich natürlich nahtlos in die apokalyptischen Songs ein.

All diese Aspekte zusammengenommen, machen sie "Carnage" zu einem überaus soliden Werk schwermütiger Rockmusik, den der eine oder andere Post-Punker der ersten Stunde goutieren könnte. Denn The Black Veil haben es verstanden, auf diesem Werk Vergangenheit und Gegenwart zu einem explosven Gemisch zu verbinden, sodass das Album einem wie ein kurzer, aber heftiger Überschallflug anmutet.

Im weitesten Sinne darf man das Projekt La Mécanique gerne mit anderen Heroen des French-Wave in Beziehung setzen, obgleich Francis Nothingwater, der kreative Kopf dahinter, gar nicht aus Frankreich stammt, sondern aus der kanadischen Provinz Québec, genauer gesagt: aus Montréal. Da aber hier fast ausschließlich französisch gesprochen wird, sollte uns das nicht weiter mopsen und wir drücken mal ganz fest beide Guckerchen zu und sagen einfach mal: La Mécanique machen auch French Wave.

Schließlich fußt der Sound des zweiten Longplayers "L'oubli des Origines" auf unbarmherzig vor sich hinlaufenden Maschinen, die sich kaum emotionale Ausbrüche erlauben und unbeeidruckt ihre Programme abspulen, die vor allem dröhnende Basslinien, pluckernde Beats und reduzierte Sequenzen zum Inhalt haben. Francis croont darüber in seinem ganz eigenen Stil, der irgendwo zwischen "très cool" und und weltlichem ennui die Hörer bezirzt.

Diese Kunst gipfelt in einigen wunderbaren Nummern, bei der vor allem das knapp dreiminütige "Mise à jour" und "Diaporama" ob ihrer ziemlich hoffnungslosen Stimmung herausstechen und die Tanzfläche mit einem auditiven Raureif überziehen. Selten klang Tanzmusiker schockgefrosteter.

Wie einst der viel zu unterschätzte Charles De Goal, der hierzulande vor allem durch den Tanzflächenfüller "Exposition" Bekanntheit erlangte, bringt auch La Mécanique eine ausladende Film-Noir-Ästhetik aufs Tablett, die er knallhart durchzieht, ohne dabei auch nur den Hauch von aktuellen Einflüssen in seinen Stücken enfließen zu lassen. Nur in Stücken wie "Au Sud de Victoria" verrät das Album seine Aktualität.

Ansonsten dürfen auch bei diesem Musiker die Gedanken gerne etwas nostalgieschwanger herumschweifen. Gerade "Carrousel" hat einen wunderbaren Retro-Charme, den man kaum widerstehen kann. "L'oubli des origines" bringt die Schönheit der französischen Sprache mit melancholischer Maschinenmusik in einen perfekten Einklang und wird jedem eingefleischten Cold-Waver eine wahre Freude bereiten.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 03.12.21 | KONTAKT | WEITER: HACKEDEPICCIOTTO VS. CHRIS LIEBING VS. ROBERT GÖRL & DAF>

Webseite:
seistill.bandcamp.com
www.theblackveils.it
lamecanique.bandcamp.com

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COVER © FUZZ CLUB RECORDS (SEI STILL), ICY COLD RECORDS (THE BLACK VEILS), COLD TRANSMISSION MUSIC (LA MÉCANIQUE)

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