"DREAMS TO FILL THE VACUUM - THE SOUND OF SHEFFIELD 1978-1988": S - EINE STADT SUCHT IHREN SOUND - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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"DREAMS TO FILL THE VACUUM - THE SOUND OF SHEFFIELD 1978-1988": S - EINE STADT SUCHT IHREN SOUND

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Die Revolution frisst bekanntlich ihre eigenen Kinder. Im Falle der industriellen Revolution musste gleich eine ganze Stadt ins nicht mehr vorhandene Gras beißen. Bis in die 1970er Jahre hinein ein wichtiger Standort für Stahlverarbeitung und Bergbau, sah sich Sheffield einer Rezession ungeahnten Ausmaßes gegenüber. Mit den Schließungen der Fabriken kam eine massive Arbeitslosigkeit - und mit ihr auch die Verwahrlosung eines riesigen Gebietes, von denen die vielen Bilder im Booklet von "Dream To Fill The Vacuum" immer noch erschreckende Eindrücke vermitteln.

Der an den französischen Architekten Le Corbusier erinnernde Brutalismus der abgebildeten Wohnsiedlungen gehen einen traurigen Einklang mit den stillgelegten Industriebrachen und lassen erahnen, in welch schlimmem Zustand Sheffield einst gewesen sein muss. Verwunderlich wäre es nicht, wenn ein Teil der Einwohner zu dieser Zeit sich dem Suff hingegeben haben oder kriminell geworden sind.

Andererseits kann eine solch trostlose Kulisse auch beflügeln und inspirieren. Denn wenn die Welt um einem herum trist und grau ist, muss man sie sich eben bunt machen.

Zugegeben, farbenfroh klingt es zu Beginn dieses Samplers sicherlich nicht. The Human Leagues dahingeschleudertes Instrumental "Dancevision" von ihrer EP "Holiday 80" provoziert die industrieromantische Vorstellung einer desillusionierten Jugend, die in den leeren Maschinenhallen tanzend ihrer Realität entflieht. Im Laufe der vier CDs, die sich chronologisch durch die im Titel angepeilten zehn Jahre arbeiten, werden die Kompositionen zwar etwas heller - Punk- und Post-Punk-Aggressionen werden von funkigen Disco- und teilweise träumerischen Indie-Pop-Nummern abgelöst - die insgesamt melancholische Grundstimmung bleibt aber stets greifbar.

Denn selbst eine soulige Pop-Nummer wie "Chains" der Gruppe Chain oder auch das an The Smiths erinnernde "Treehouse" von Mr. Morality besitzen immer noch einen leichten Hauch von Zynismus, den man nur haben kann, wenn man sich in einer Stadt befindet, die ihre besten Jahre scheinbar hinter sich hat. Der Indie-Pop dieser Tage wurde auch von einer gewissen Gruppe namens Pulp mit geformt. "Everybody's Problem" von 1983 fand allerdings nur wenig Gehör. Sie waren eben ihrer Zeit voraus; es mussten noch zehn Jahre vergehen, ehe Jarvis Cocker und seine Mitstreiter im Strudel des Brit-Pop zur respektablen Größe heranreiften.

Das ist übrigens das tolle an "Dreams To Fill The Vacuum": Neben viel Kuriosem, das vielleicht nicht unbedingt wieder in Erinnerung hätte gerufen werden müssen, aber der Vollständigkeit halber dennoch ihre Daseinsberechtigung auf diesem Sampler hat, kann man viele Gruppen, die sich einige Jahre später als verkaufsträchtige Combos erweisen sollten, in ihren Anfangstagen erleben. Thompson Twins beispielsweise, ewig in das kollektive Gedächtnis durch ihren unkaputtbaren Träller-Song "Hold Me Now" eingeschrieben, gaben sich zu Beginn der 1980er Jahre noch wenig poppig, wie "She's In Love With Mystery" eindrucksvoll belegt. Eher greifen da noch alte Punktraditionen in dieser Komposition, der fluffige Synthie-Pop schien damals noch meilenweit entfernt.

Am Vorabend ihres weltweiten Durchbruchs standen ABC, als sie ihre erste Single "Tears Are Not Enough" 1981 herausbrachten. Auf dem Sampler vertreten sind sie allerdings mit der B-Seite davon, "Alphabet Soup", der sich noch irgendwo zwischen New Wave und James Brown postiert und den schnörkeligen Funk-Pop ihrer darauffolgenden Hitsingles "The Look Of Love" und "Poison Arrow" höchstens nur erahnen lässt. Selbst Sänger Martin Fry besaß in seinem Gesang noch eine gewisse Verrücktheit und Weirdness, die er zukünftig einem weitaus schmalzigeren Duktus zuliebe aufgeben sollte.

Ansonsten lädt die üppige Box im Buchformat auf einen auditiven Streifzug durch eine Zeit ein, die von einer scheinbar unbändigen Kreativität durchflutet war. Von einem schnellen Drei-Akkord-Gewichse bei "TV Product" von Social Psychology über experimentelle Synthesizerbearbeitung der British Electronic Foundation, jenem Zwischenprojekt von Martyn Ware und Ian Craig Marsh, die gerade The Human League hinter sich gelassen haben und Heaven 17 (hier übrigens mit dem Klassiker "(We Don't Need This) Fascist Groove Thing" im 12" Mix vertreten) noch nicht das Licht der Welt erblickt hat, bis hin zum weltraumaffinen Jazz-Rock von "Bass Tone Trap" der Gruppe Intruder In The Dust: Alles lief ziemlich zeitgleich ab und formte den Nimbus der Stadt als Schmeztigel für Pop- und Subkultur.

Es ist usus beim Label Cherry Red, die diesen Sampler veröffentlichen, das Booklet verschwenderisch zu gestalten. Dieses Mal laden neben den Hintergrundinformationen zu den Nummern, kleine Anekdoten der Künstler, die dieser Epoche der "Popwerdung" ihrer Heimatstadt mehr oder minder erfolgreich beiwohnten, zum Schmökern ein. Gleichzeitig vertiefen sie das Gesamtbild eines urbanen Musikerkollektivs, das sich irgendwo zwischen rüder No-Future-Attitüde, todessehnsüchtigem Gothic-Chic und New-Romantic-Nihilismus selbst ein Denkmal setzt - und Sheffield, auch Dank der Entstehung so renommierter Plattenfirmen wie das Warp-Label, zum Brennpunkt in Sachen innovativer Popmusik machten.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 19.11.19 | KONTAKT | WEITER: PHILIPP HOCHMAIR VS. MIRA MANN>

Webseite:
www.cherryred.co.uk

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COVER © CHERRY RED RECORDS/ROUGH TRADE

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