12/23: SDH, LAUT FRAGEN, BLOND,SCALA, WIEGAND, CARLO ONDA - SONNENTÄNZE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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12/23: SDH, LAUT FRAGEN, BLOND,SCALA, WIEGAND, CARLO ONDA - SONNENTÄNZE

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Semiotic Departments Of Heteronyms, abgekürzt: SDH, gingen mit ihren ersten Veröffentlichungen in die Vollen und ernteten überschwängliches Lob. Denn das spanische Duo um Musiker Sergi Algiz und Sängerin Andrea P. Latorre brachten 2018 auf ihrem selbstbetitelten Debüt eine neue Spielart elektronischer Klangerzeugung der Hörerschaft näher. Sie selbst bezeichnen als "cruelly sexy electronic music", was den Kern ihrer ersten Stücke durchaus gut beschreibt. Wichtiger jedoch ist die Tatsache, dass SDH sich offensichtlich von vielen relevanten Electro-Songs aus den letzten 30 Jahren haben inspirieren lassen, ohne aber auch nur den Hauch einer plumpen Anbiederung zu versprühen. Das ist auf dem neuesten Werk "Fake Is Real" nicht anders. Doch in der Klangwelt von SDH hat sich einiges getan. "Fake Is Real" kehrt dem allzu sinistren, ebm-lastigen Klang den Rücken und wagt sich auch mal in Italo-Disco-Gefilde wie bei "Hectic". Doch wo sich üblicherweise zu den erbauenden Melodien (prototypisch mit eingestreuten Orchester-Hits) treibende Drumfills gesellen, durchschneiden hier technoide Beats die Szenerie, während eine dröhnende Basslinie und trancige Melodien im Finale den Song in eine unerwartete Richtung lenken. Auch "Cellular Sky", SDHs vielleicht poppigster Song überhaupt, besitzt eine spezielle Dynamik zwischen weiblichem Gesang und tanzwütiger Elektronik, wie man sie von Miss Kittin & The Hacker her kennt. SDH öffnen sich neuen Tönen, bleiben aber im Kern immer noch eine im electroaffinen Wave beheimatete Band, die, so sieht es jetzt aus, auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird.

Laut Fragen, ebenfalls ein männlich-weibliches Duo, bestehend aus Didi Disko und Maren Rahmann, lieben auch die Elektronik, ziehen sie aber unter anderen, politisch motovierten Gesichtspunkten auf. Auf ihrem Album "Facetten des Widerstandes" thematisierte das österreichische Zweiergespann beispielsweise das Verhalten ihres Landes gegenüber der Nazi-Zeit. Zu gerne sieht es sich nämlich als Opfer, was die beiden Musiker mit ihren künstlerischen Mitteln kritisierten. Die neueste Veröffentlichung nun nennt sich "Beton" - und um dieses Baumaterial dreht es sich dann auch. In schnuckeligem Electro-Punk mit discoider Schlagseite wird das Material im Titelsong erst einmal sinnlich-erotisch überhöht, zum Schluss aber als erdrückend und lebensbedrohlich empfunden. Geradezu dystopisch kommt "Grau" daher, ein Dark-Cabaret-Walzer, bei dem die letzten Betonliebhaber sich ihre monochrome Stadt erträumen. "Viva Beton" grölen sie unter verstimmten Instrumentarium, berauscht von ihrer eigenen Gefühlslosigkeit. Und wenn im abschließenden "Manifest" unter sirrenden und quietschenden Sequenzen vocoderverzerrt "Jaja" und "Soso" gesungen wird, schreiten Laut Fragen mit großen Schritten auf die Politiker zu. Denn sie sind es, die Entscheidungen fällen, die Auswirkungen auf die Zukunft haben. Doch ihre halbgaren Antworten, materialisiert in den Nullaussagen "Jaja" und "Soso", verdeutlichen die Ignoranz, auf die dringenden Fragen der Gesellschaft - allen voran das Erstarken politisch extremer Ränder sowie der fortschreitende Klimawandel - keine oder nicht ausreichend gute Antworten zu geben. Laut Fragen sind nicht einfach eine Band, sondern das Gewissen einer ganzen Generation, die den Nachkommen verbrannte Erde hinterlassen.

Apropos: Explizite Aussagen finden wir auch bei der dreiköpfigen Formation Blond. Beheimatet in der Kraftklub-Stadt Chemnitz bläßt der Punkpop mit wechselnden Gesangs- und Rappassagen in das gleiche Horn wie die Subkultur-Aushängeschilder. Das war es dann aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten. "Perlen", das zweite Album der Blondies, ist ein Kampfaufruf, wie es schon im Intro fußballstadionmäßig skandiert wird: "Auf geht's Blondies, kämpfen und siegen". Gewonnen haben sie auf jeden Fall die Aufmerksamkeit mehrerer Gazetten, und auch das Fernsehen lud Blond bereits ein - ironischerweise in eine Kabarettsendung. Denn zwar sind ihre Texte bissig sarkastisch, aber keineswegs zum Lachen. Blond deckt schonungslos auf, wie es um die Gleichberechtigung gestellt ist, nämlich gar nicht. "Männer" dreht den euphorischen Duktus von "It's Raining Men" der Weather Girls um und beschreibt Blonds Erfahrungen auf männlich dominierten Festivals, während "Toxic" Abschied nimmt von vergifteten Beziehungen. Dazwischen wird nicht nur die Kaputtheit der Welt zelebriert, sondern auch die eigenen Unzulänglichkeiten. Mal bitter-ironisch wie in "Sims 3", wo der Avatar im Simulationsspiel ebenso am Leben scheitert wie das lyrische Ich vorm PC, mal überraschend forsch, wenn der vermeintlich besungene Herzensmensch in "Mein Boy" sich als Therapeut entpuppt. Das Schwesterpaar Nina und Lotta Kummer sowie Johann Bonitz sind das Sprachrohr der Millennials, einerseits extrem verletzlich und offen im Umgang mit mentalen Problemen ("Immer lustig"), andererseits voller Selbstbewusstsein und bereit, für ihre Werte kompromisslos einzustehen ("Oberkörperfrei", "Du und ich"). Oder wie es im Outro heißt: "Es ist schön, es ist toll, Blondinator zu sein", so nennen sich ihre Fans, deren Anzahl nach "Perlen" sich bestimmt vergrößern wird.

Natürlich müssen es nicht immer politische Inhalte sein. Manchmal reichen schon einfach gute Melodien, um zu begeistern. Klar, dass Labels ihre Schützlinge da auch immer über den grünen Klee loben. Pbhmedia stufen Scalas Album "II", ironischerweise aber nicht ihr Zweitling sondern Scalas Premierenwerk, schon mal gleich als "an album of pure pop brilliance" ein. Das ist weit aus dem Fenster gelehnt. Andererseits müssen die sich ihrer Sache sehr sicher sein. Bereits in die ersten Takte von "II" reingehört, wird offenbar, dass das Label nicht übertrieben hat. Scala zünden ein Melodiefeuerwerk erster Güte ab, das durch die auf schwedisch vorgetragenen Texte eine eigene Note erhält. Ein Blick in die Vita des Projekts zegt, dass hier zwei Kunstschaffende am Werk sind, die elektronische Popmusik fest in ihrer DNA verankert haben. Der in Frankfurt beheimatete Peter Johansson kann bereits auf einige Veröffentlichungen, unter anderem mit der Formation Glas, zurückblicken. Dort sang auch Helena Wiegeborn mit, die nach einigen Umwegen (unter anderem bildet sie eine Hälfte der Italo-Disco-Liebhaber Train To Spain) zu Scala gekommen ist und Peter mit ihrer glockenhellen Stimme unterstützt. "II" nimmt von Anfang an keine Gefangenen, kredenzt druckvolle Beats, markantes 80er-Electro-Schlagzeug und wie Champagner perlende Synthie-Melodien, die nichts weniger wollen, als den Menschen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. "II" verdient tatsächlich all das Lob, dass das Label über Scala vorab ergießt. Von journalistischer Seite sei noch hinzugefügt, dass wir es hier sogar mit einem der schönsten Synthie-Alben des Jahres zu tun haben.

Vor vier Jahren hat Helge Wiegand, der sich schlicht als Wiegand ausgibt, sein erstes Album "Released" veröffentlicht. Nun folgt "Arrived", und es hat den Anschein, als wollte der Titel uns erklären, dass Wiegand angekommen ist und sich stilistisch fest positioniert hat. Schon der Vorgänger offenbarte bereits, dass der Mann bereits Erfahrungen im Musikbiz gemacht hat, allen voran als Live-Keyboarder für Diorama. Der Einfluss dieser Band um Sänger Torben Wendt ist überdeutlich herauszuhören. Die stilistische Nähe ist sogar schon als frech zu bezeichnen, denn sie übernimmt die verschiedenen Stile fast eins zu eins, lässt bei "Get Informed" Parallelen zu den härteren und tanzbaren Stücken zu, während "The Quiet Thief" das Pop-Momentum adaptiert. Selbst Wiegands Gesang erinnert in der Phrasierung fatal an Torben. Wo aber Diorama dann doch gerne mal in die experimentellere Ecke abdriftet, lässt sich Wiegand nicht beirren und bleibt geschmeidig und eingängig. Dennoch schafft er es, einige ganz feine musikalische Leckerbissen zu zaubern, die sich wohltuend von gängigen Erwartungen abheben. Besonders "Filter" mit seinem gedrosselten, pluckernden Beat bleibt in Erinnerung und kann als einer der besten Nummern auf "Arrived" bezeichnet werden. Auch "Pied Pipers" besticht durch einen markanten Basslauf, der von einzelnen Synthiesprengseln durchbrochen werden, ehe kaskadenartige Sequenzen im Refrain das starre Dancekorsett etwas lockern. Zum Schluss darf sich noch einmal "Filter" als zartschmelzende Pianoballade präsentieren, womit Wiegand auch hier einmal mehr Diorama nahe steht. Dennoch bleibt "Arrived" ein kluges und immer noch eigenständiges Album, das voll von melancholischer Tanzmusik ist.

Liebe Gemeinde, wir haben wieder eine neue Musikgattung! Carlo Onda hat sie sich für sein neuestes Werk "Euro89" erdacht: Lomo Filter Wave. Kleiner Exkurs: Lomo war eine sowjetische Firma, die Billigkameras produzierte, deren Bilder sehr körnig und unscharf waren und zudem eine starke Vignettierung, also markante Schattierungen an den Bildrändern, aufwies. Diese technsichen Unzulänglichkeiten waren später als Stilmittel in der Kunstfotografie sogar erwünscht und heutzutage ahmen Filterprogramme auf den Smartphones diesen Effekt nach. Was das für das Album bedeutet, erklärt der Musiker auf seiner Bandcamp-Seite folgendermaßen: "Euro89 ist eine gleichsam digitale und organische Welt. Sie erinnert, ist dabei nostalgisch und doch irgendwie dement." Dementsprechend wird der Minimal Wave, dem sich Onda seit Abeginn verpflichtet fühlt, angepasst. Jetzt dominieren verwaschene, sommerliche Dance-Vibes; Carlos Stimme ist die meiste Zeit ein grobporiger Hybrid aus Sprechen, Flüstern und Singen. Tatsächlich klingt "Euro89" so, als habe man ein altes, leicht marodes Mastertape von vor 40 Jahren wieder ausgegraben und es mit heutigen Mitteln restauriert und einige Spuren hinzugefügt. So hätte die schmutzige Gesangsspur in "Temptation" noch aus der Vorwendezeit stammen können, während die druckvollen Bassequenzen und klaren Melodien die Gegenwart repräsentieren. Stücken wie "Friscolino" oder "Your Kiss So Sweet" gelingt es sogar, ein melancholisches Sommergefühl zu vermitteln - eigentlich ein Widerspruch in sich. Doch Carlo Onda hat bereits bei seinen früheren Alben "Sturm und Drang", "Souleater" und "Sonnen & Baden" gezeigt, dass er Minimal Wave weiterdenkt und durch seine persönlichen Beobachtungen und Gedanken immer wieder neu definiert. Dieses Mal ist es Lomo Filter Waver. Wer weiß, was als nächstes kommt...

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.06.23 | KONTAKT | WEITER: PATRICK HUBER "HADES 2.0">

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