9/21: JACK DALTON & THE CACTUS BOYS, THE VOO, HAWEL MCPHAIL, SIN PLUS, WRECKAGE DANCE - DIE SAITENSPIELE SIND ERÖFFNET - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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9/21: JACK DALTON & THE CACTUS BOYS, THE VOO, HAWEL MCPHAIL, SIN PLUS, WRECKAGE DANCE - DIE SAITENSPIELE SIND ERÖFFNET

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2021

Einfach gut gemachte Gitarrenmucke? Eine, die nicht verkopft klingt, sondern gleich in die Unterschenkel fährt? Gibt es momentan ganz, ganz viel davon, vor allem in...

...Hamburg zum Ersten: Dass man bei diesem Namen unweigerlich an den Comic-Band "Lucky Luke" denken muss, ist sicherlich nicht ganz unbeabsichtigt gewesen. Denn Jack Dalton ist der zweitgrößte der vier Knast-Brüder. Während dieser aber relativ eigenschaftslos zwischen dem Choleriker-Zwerg Joe und dem unterbelichteten Lulatsch Averell agiert, machen Jack Dalton & The Cactus Boys deutlich mehr Alarm. Die Verbindung zwischen diesen beiden Jacks liegt im Setting: Die EP "Milkshake Robbery" ist perfekter Spaghetti-Gitarren-Sound, der sich in der staubigen Westernlandschaft prima machen würde. Dazu gibt das Quartett von der Elbe zu diesem Grundrezept noch eine Messerspitze (Post-) Punk hinzu, ein paar Teile Garage-Rock und runden das alles mit einer Menge Psychedelic ab. Am Ende stehen fünf erfrischende Songs auf der Habenseite, bei dem sich das Gespann die größtmöglichen Freiheiten erlauben, bei "Keepshot Scooter Box" auch mal ganz schön breitbeinig an der Gitarre rumwichsen und im Titelsong auf klassische Blues-Elemente zurückbesinnen, diese aber natürlich mit viel Hall und jeder Menge halluzinogener Töne aufrüscht. Gern genutztes Instrument ist in diesem Fall die Orgel, die bei Jack Dalton & The Cactus Boys endlich wieder zu einem langersehnten Revival kommen darf. Ein bisschen klingen die Jungs so, als ob The Doors zehn Jahre später gegründet worden wären und als Dandy-Punker durch die kleinen Clubs und Bars ziehen, um dort ihre Kunst zum Besten zu geben. "Milkshake Robbery" ist ein bockstarkes, erstes Lebenszeichen einer vielversprechenden Band.

Hamburg zum Zweiten: In der Hafenstadt ist nämlich auch Andrew Krell geboren, der zusammen mit dem Briten Ben Galliers den DreamRocknRoll erfunden haben und so auch ihre EP betiteln. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein wilder Ritt durch die Rock-Geschichte. Ähnlich wie die vorher besprochenen Jack Dalton & The Cactus Boys verpassen sie ihren Songs ebenfalls eine leichte Western- und Psychedelic-Note. Allerdings bleiben The Voo noch ein bisschen stärker im Rock'n'Roll verhaftet, wie es der Song "Ain't No Rhyme Or Reason" perfekt wiederspeigelt. In bester Rockabilly-Manier und mit treibendem Slap-Bass erzählen sie von einem Menschen, der mit charmanten Lügen eine ganze Stadt in den Ruin treibt. Dieses in einem finale furioso aus geloopten Sounds endenden Song bezieht sich dabei natürlich auch auf diverse Machthaber und Landesoberhäupter. Musikalisch ganz ähnlich verhält es sich mit "Diggalittle",  das ebenfalls mit energetischem Kontrabass-Spiel und einem catchy Refrain mindestens die Hälfte der gerade aktuellen Teilnehmer am Eurovision Song Contest in die Tasche stecken könnte. Die mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten des Kontrabasses bei The Voo erstaunen dabei immer wieder. Allen voran ist "Mermaid Death Kiss" eine fast schon angeberische Zurschaustellung in sieben Minuten: Da wird dem Instrument tief-sägende Klänge entlockt, leicht orientalisch angehauchte Streicherpassagen und vorwitzige Pizzicato-Arpeggios kreiert. In Verbindung mit Galliers mal gefühlvollen, mal fordernden Gesang entsteht bei The Voo ein wunderbarer Sound - völlig egal, wie dieser am Ende genannt wird.

Hamburg zum Dritten: Frehn Hawel und Rick McPhail sind alte Indie-Hasen. Der eine ist unter anderem Pressesprecher beim Reeperbahnfestival, der andere bereichert die Band Tocotronic seit 2004 mit seinem Können. Das ist - nicht nur auf dem Papier - geballte Manpower für die Abteilung Indie-Rock. Dementsprechend ist das erste Hawel/McPhail Output "Transmissions From The Upper Room" (mit herrlich schäbigem Plattencover) nichts weniger als die Rückkehr gradliniger Stromgitarren mit Punk-Appeal. Gerade in Stücken wie "Little Signs" und "Minor Commotion" schwingt unbewusst auch ein bisschen Wehmut mit. Dafür können aber Hawel /McPhail nichts. Eher ist es der momentanen Situation geschuldet. Denn ihr handfester Sound erinnert an die tolligen Live-Konzerte diverser Garagenbands in kleinen, überfüllten Clubs, die Luft stickig, der Boden klebrig, ein Duft von verschüttetem Bier liegt in der Luft. Alles Dinge also, die sich viele wieder sehnlichst herbeiwünschen. Das Duo nimmt auf ihrem Erstling keine Gefangenen, und man malt sich gerne aus, mit welcher Energie diese beiden alten Haudegen auf der Bühne alles niederreißen. Vorerst bleibt es aber beim individuellen Ausrasten in den eigenen vier Wänden. Dafür taugt ihr krachiger Rock, der sich in zehn Songs kompromisslos und ohne großen Experimente durchzieht, allemal und macht "Transmssions From The Upper Room" zu einem Album allererster Güte, um einfach mal gepflegt die Sau rauszulassen und der ganzen Welt den Stinkefinger zu zeigen.

Und noch ein Duo, aber nicht aus Hamburg, sondern aus der Schweiz. Gabriel und Ivan Broggini alias Sinplus haben schon einige Highlights in ihrer Karriere verbuchen können: MTV Award als bester Schweizer Act, Teilnahme am Eurovision Song Contest 2012 in Baku (wo sie knapp das Finale verpasst haben) und einen Beitrag für den offiziellen Soundtrack der 2016er Gymnastik EM. Alles schön und gut, aber nun heißt es: "Break The Rules". Das Brüderpaar bezeichnet dieses Album als eines "aus dem Instinkt geboren". Und dieser hat sie anscheinend noch stärker zu ihren New-Wave-Wurzeln geführt. Wenigstens erinnern "You Get What You Give" und "Private Show (My RnR)" nicht von ungefähr an den Hochglanz-Punk eines Billy Idol. Letztgenanntes Stück eröffnet nicht nur "Break The Rules", es ist auch ein wahres Liebeslied an die Rockmusik selbst. Und in "The Cure" hört man - obwohl der Titel an die Gothic-Band schlechthin erinnert - den breitwandigen Stadion-Rock der frühen U2 und vor allem Simple Minds deutlich heraus. Nur, um einen Song später wieder alles zu nivellieren und in "Burning Man" einen Wust an Elektronik aufzufahren und beim darauffolgenden "Give It Away" wieder eine andere Facette ihres Könnens preiszugeben. Sinplus sind Vollblutmusiker, das merkt man. Und sie sind stets auf der Suche nach der ultimativen Hookline für ihre Stücke, was "Break The Rules" zu einem kurzweiligen Hörvergnügen macht. Diese Band ist ihrem Namen nach wirklich eine Sünde wert.

Und jetzt? Hamburg zum Vierten! Was ist da nur los? Da muss irgendwas im Trinkwasser sein, dass so viel substantielle Musik zeitgleich den Markt überschwemmt wie das Hochwasser die Speicherstadt. Wreckage Dance ist das Kopfkind von Julian, der bereits als Wolfsuit in der hiesigen Post-Punk-Szene für ein paar groß aufgestellte Ohren sorgte. Nun ist im letzten Jahr Corona über uns hereingebrochen, und das bedeutete für den Norddeutschen weniger das Ende als ein Neuanfang - eben als Wreckage Dance. Ihm schwebte ein klassisches Post-Punk-Album vor, das er aber nur unter Zuhilfenahme von Musikerkollegen realisieren konnte. In Friedi aus Düsseldorf (Schlagzeuger unter anderem bei Kadeadkas) und Henrik aus Göttingen (Gitarrist bei Shudder And Split) rekrutierte er zwei Spezis, die er bereits aus früheren Projekten kannte. Das mag auch das vertraute Spiel des Trios ausmachen, welches dem selbstbetitelten Debüt eine Homogenität verleiht. Dabei war das in Zeiten von Social Distancing nicht ganz einfach: jeder musste seinen Part zu Hause einspielen. Und wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit reifer für ein klassisches Post-Punk-Werk. Der Bass wabert nebulös, die Gitarrenfiguren wirken angenehm unscharf, und Julian kämpft sich durch das Dickicht aus Weltschmerz und ausgefeilter Tristesse. Das in kompletter Eigenregie produzierte Album ist nicht mehr oder weniger als die punktgenaue Beschreibung einer gesamtdeutschen Gefühlslage zwischen Hoffnungslosigkeit und Wehmut. Ein atemberaubendes Juwel dunkelromantischer Tonkunst.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 28.05.21 | KONTAKT | WEITER: TRAJEDESALIVA VS. ANDREAS DAVIDS & SVEN PHALANX>

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Webseiten:
jackdaltonandthecactusboys.bandcamp.com
www.facebook.com/The-VOO-115210657272986
www.facebook.com/hawel.mcphail
www.sinplus.com
wreckagedance.bandcamp.com

Covers © La Pochette Surpirse (Jack Dalton & The Cactus Boys, Hawel/McPhail), Houdini Records/Harmony Terrorists (The Voo), AWAL (sinplus), Wreckage Dance

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