ROTERSAND "TRUTH IS FANATIC AGAIN": GIPFELTREFFEN DER KNÖPFCHENDREHER
Reichlich verschrammt und ganz sicher nicht mit dem besten Leumund behaftet, konnte sich die darbende Remixkultur irgendwie noch knapp ins neue Jahrtausend hinüberretten. Gerade in der Popkultur brachten unzählige, meist blutleere und uninspirierte Neuabmischungen diese Kunstform in Verruf. Wer erinnert sich nicht an die künstlich aufgeblähten Singles der späten 90er Jahre, die den Hörer mit teilweise acht oder neun ach-so-verschiedenen Interpretationen in den Wahnsinn trieben.
Diese Verwässerung hat den Ruf des Genres leider nachhaltig beschädigt.
Doch Remixe sind keine bloßen Lückenfüller, sondern eine hohe Kunst für sich. Dafür lieferten bereits einige Veröffentlichungen – auch aus der jüngeren Geschichte – den eindrucksvollen Beweis.
Aktuell rüschen die Elektroniker von Rotersand auf "Truth Is Fanatic Again" ihre großen Club-Hits mit frischen Sounds auf - und lassen an diesem Spektakel auch allerlei illustre Gäste mitwirken.
An und für sich stellt sich nur eine Frage: Wie schafft man es, einen Song glaubhaft neu zu interpretieren? Zwei Optionen stehen zur Verfügung: Möglichst nah am Original bleiben und das Ausgangsmaterial behutsam umbauen, oder lieber gleich komplett anders arrangieren. Beides hat seinen Reiz. Man nehme beispielsweise "The Final Remixes" von den Krupps, ein für damalige Zeit äußerst ambitioniertes Werk, bei dem alles, was anno 1995 Rang und Namen in der Crossover-Szene besaß, Hand an den Songs der Düsseldorfer Industrial-Rocker legen durfte. Sisters Of Mercy, Clawfinger, Cassandra Complex oder auch Waltari geben sich hier die Ehre. Das Ergebnis: Ein aufregendes Werk, das zwischen respektvollem Umgang und mutiger Neuausrichtung des krupp'schen Liedgutes hin- und herpendelt.
Einen Schritt weiter geht es bei Ben Lukas Boysen alias Hecq, ein Meister der Dekonstruktion: Seine Remixe verwandeln selbst eingängigste Werke in kunstvoll-verschrobene Klanglandschaften. Vor allem Dennis Ostermann, seines Zechens Frontmann bei In Strict Confidence, ließ gleich ganze Alben vom Herrscher der Splittertöne neu ausrichten.
Ganz so progressiv ist "Truth Is Fanatic Again" nun, dankenswerterweise, nicht geworden.
Das Remixalbum, erstes Lebenszeichen von Rotersand übrigens seit mehr als vier Jahren, steckt seine Grenzen ganz klar in der treibend-tanzbaren Elektronik ab.
Ein verschmerzbarer Umstand, denn die Liste der Künstler, die sich bereit erklärten, an diesem Projekt mitzuwirken, liest sich wie das glamuröse "Who-is-who" des Electro-Business: Drummer Mark Jackson von VNV Nation, Solitary Experiments, Neuroticfish, Thomas Rainer von L'âme Immortelle und Aesthetic Perfection sind vertreten – um nur einige klangvolle Namen zu nennen.
Um jeden Verdacht einer tumben "Zweitverwertung" gleich mal mit voller Wucht aus dem Weg zu sprengen, haben Sänger Rasc, Texter Gun und Sequenzer-Bändiger Krischan einen neuen Song an den Anfang dieser Quasi-Best-Of-Scheibe gestellt.
"Electric Elefant" mit seinen massiv sägenden Sounds und den zentnerschweren, verschleppten Beats schaffte es binnen kürzester Zeit auf Platz eins der Deutschen Alternativen Charts – natürlich zu Recht.
Das Lied bringt schließlich alle Vorzüge von Rotersand auf den Punkt, deren Musikverständnis stets um einige Meilen intellektueller und vielschichtiger war als bei so vielen anderen Projekten, die in den letzten Jahren die Szene mit ihrem Liedgut überschwemmten.
Selten wurden Techno-, EBM- und Tranceeinflüsse derart stimmig miteinander kombiniert.
Erwartungsgemäß sorgen die großen Namen dann auch für das entsprechend akustische Feuerwerk: Solitary Experiments unterfüttern "Almost Violent" mit breitwandigen Sounds, Thomas Rainer beliefert "Content Killer", das bereits im Original wie ein rauer Nordwind über den Hörer fegt, mit einer gehörigen Portion Dreck, und Rotersands erster großer Diskotheken-Knüller, "Merging Oceans", wird von dem wiederbelebten Projekt Neuroticfish zur energiegeladenen Future-Pop-Hymne umgedeutet.
Zu keiner Zeit keimt das ungute Gefühl auf, dass hier einfach nur lieblos Spuren aneinandergeklebt wurden. Im Gegenteil: Jeder Künstler bringt sich voll ein – und hebt die Songs des Dreiergespanns in eine weitere, spannungsgeladene Dimension.
Das erfreut nicht nur den Fan, sondern auch den neutraleren Hörer, der auf diese Weise nicht nur mit dem ohnehin exquisiten Material von Rotersand vertraut gemacht wird, sondern darüber hinaus auch einen ordentlichen Überblick über die derzeitigen Strömungen in der dunkelbunten, elektronischen Musikszene erhält. Hier schlummert dann auch noch die eine oder andere Überraschung.
Zum Beispiel Ionnokx, das Projekt eines gewissen Gabriel Shaw. Seine reduzierte Version von "Electronic World Transmission" intensiviert mit organisch gehaltenem Schlagwerk das Live-Feeling dieses Stücks. Auch Ron Spank vollführt einen Schritt in Richtung Minimalismus. Extrem auf ein brodelndes Rhythmusgerüst eingedampft, spricht Ex-Welle:Erdball-Schaufensterpüppchen Fräulein Plastique den Text zu "Social Distortion". Eine eigenwillige Mixtur aus kühler Elektronik à la Covenant und emotionalem Lyrikvortrag im Geiste einer Anne Clark.
Dass sich Rotersand mit "Truth Is Fanatic Again" wieder lautstark zurückmelden, ist die eine Seite der Medaille. Großes Gewicht erhält diese Veröffentlichung aber auch dadurch, dass sie der Remixkultur endlich wieder frische Energien schenkt.
Denn zumindest in subkulturellen Gefilden scheint deren negatives Image noch nicht gänzlich verabschiedet zu sein.
Ganz anders sieht es da an Oberfläche der Popkultur aus, wo jüngst ein DJ namens Martin Schulz mit seinen Verschönerungsarbeiten von "Prayer In C" den bis Dato unbekannten Lillywood & The Prick zu massiven Charterfolgen verhalf.
Da wünscht man sich dann schon, dass dieser offene Geist mit Rotersand und “Truth Is Fanatic Again” jetzt endlich auch die alternativen Spielformen erfasst.
|| TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 30.11.14 | KONTAKT | WEITER: POSTPUNK/GOTH-COMPENDIUM "SOME WEAR LEATHER, SOME WEAR LACE"
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