8/19: THE DEAD SOUND, WIRES & LIGHTS, L'AVENIR, AUTOMATIC, MEMORIA - NEUE HELDEN, ALTER GLANZ - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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8/19: THE DEAD SOUND, WIRES & LIGHTS, L'AVENIR, AUTOMATIC, MEMORIA - NEUE HELDEN, ALTER GLANZ

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2019

"Lieber gut kopiert, als schlecht selbst gemacht" - der Spruch ist nur zu wahr. Denn oftmals nützt es, sich dem eigenen Sound über Umwege, sprich: durch Imitation seiner musikalischen Helden, zu nähern.

[image:image-1]Bei The Dead Sound sind es aber gleich mehrere Lieblinge, die man zwischen den Noten hören kann. Der beklemmende Post-Punk von Joy Division kristallisiert sich auf ihrem ersten Album "Cuts" ebenso heraus wie die Liebe zu den Shoegazern der ersten Stunde oder den melancholischen Krachmachern von The Jesus And Mary Chains. Selbst ein bisschen Krautrock scheint durch die motorisch-repetitive Auslegung der Stücke durch. Das lässt den Schluss zu, dass The Dead Sound ziemlich genau wissen, was sie da machen. Bei ihrer Vita ist das kaum verwunderlich. Karl Brausch, der The Dead Sound zunächst als Solo-Projekt angelegt hat, ist fürderhin bei Love A und Matches tätig gewesen. Mittlerweile hat sich sein Bandkollege Dominik Mercier dazugesellt, Lars Bormann (Ex-Mitglied der Punkcombo Freiburg) komplettiert das Line-Up. Diese geballte Manpower ist in jeder Note hörbar und steigert sich in einem gekonnten Balanceakt aus schroffen Klangwänden und angedachter Eingängigkeit. "Do You Fear" ist indes als Eröffnungspunkt sehr gut gesetzt, fasst es den ausgearbeiteten Klangkosmos von The Dead Sound perfekt zusammen. Wie der Bodennebel in den Düsterdiskotheken wabert die Musik des Trios umher, lässt Konturen verschwimmen und alles in ein mysteriöses Zwielicht tauchen. Brauschs distanziertes Organ wirkt durch den masiven Einsatz von Hall noch ein Stück entrückter. Dazu lassen die Trierer keinen Zweifel an ihrem von Isolation geprägten Lebensentwurf. "Kill This Love", "Alone", "No Tomorrow", "Into The Dark" - das klingt nicht gerade nach mehr Spaß, auch wenn "More Fun" dies wenigstens im Titel verspricht. Dieser Erstling setzt sich intensiv mit dem Post-Punk-Erbe auseinander, erste eigene Ideen sind aber zu erkennen, die mit der zweiten Scheibe, so sie kommen wird, noch deutlicher hervortreten werden.

[image:image-2]Für das nächste Album lohnt sich ein kleiner Blick zurück, genauer gesagt fünf Jahre früher. Dort tauchten Wires & Lights bereits mit einer etwas anderen Version von "Swimming" erstmals auf dem gehaltvollen Sampler "Pagan Love Songs Vol. 3" in Erscheinung. Und schon damals hat man schnell geschnallt, dass diese Gruppe nicht erst seit gestern Musik macht. In der Tat rekrutiert sich Wires & Lights aus verschiedenen Szenebands wie Passion Play oder auch Frank The Baptist. Substanz ist also da. Aber "A chasm Here And Now", das in Insiderkreisen lang ersehnte Debüt, ist noch ein bisschen mehr: Es wirkt so, als haben Sänger Justin Stephens und seine Mitstreiter nicht nur einen amtlichen Erstling abgeliefert, sondern auch die perfekten Synergien geschaffen, sodass bereits "Drive" das Album strahlen lässt - natürlich in den dunkelsten Farben. Der Gothic-Rock der zweiten Generation, allen voran jener von The Mission praktizierter, ist zweifelsohne der stärkste Bezugspunkt im Klanguniversum von Wires & Lights, doch unter dieser oberflächlichen Betrachtung findet sich dann doch mehr. Allen voran eine unbändige Spielfreude, ein in jedem Stück perfekt angelegtes Songwriting und ein Arrangement, das gleichzeitig wuchtig und imposant daherkommt, aber nicht in irgendwelche schalen Manierismen festzustecken droht. Sie werden jeden Gothic abholen, dessen Weltbild sich nicht aus einem lieblos dahingeklatschten Pastiche unterschiedlicher Szenekleidermärkte zusammensetzt, sondern auch die tiefen Emotionen und die Suche nach der Freude in der Einsamkeit mitdenkt. Seine stärksten Momente hat "A Chasm Here And Now" aber gerade dann, wenn sich die ganze kompositorische Kraft der Songs langsam entfaltet. So wie bei "Dead To Us", das klassisch mit tiefergestimmten Gitarren beginnt und sich in Sieben Minuten und 20 Sekunden in ein immer größeres Monster von einem Song transformiert. Das abschließende "Going, Going, Gone" zeigt die gleiche Finesse beim Songschreiben, indem es die Dynamik innerhalb der Nummer variiert und fast unvermittelt endet. Das ist tief empfundene Liebe zur dunklen Musik, gepaart mit melancholischer Nonchalance.

[image:image-3]Einen ganz anderen Ansatz besitzt L'Avenirs neuestes Werk "Requiem". Der Vorgänger "Soir" hat es bereits vorgemacht: Analoge Synthesizer arbeiten auf einer extremen Minimallinie, die musikalischen Themen werden redundant verhandelt. Am Ende steht ein somnambul gehaltener Cold Wave, der sich wohl auch nur deswegen so anhören kann, weil Jason Sloan, der Mann hinter der "Zukunft" (was L'Avenir übersetzt bedeutet), sich einerseits zuvor mit Ambient-Music beschäftigt, andererseits in eine Zeit hineingeboren worden ist, als nebulös wabernde Klänge gerade in den Untergrundclubs langsam ihren Weg auf die Tanzfläche bahnten und Labels wie 4AD und dergleichen viel Zulauf erhielten. Das Projekt setzt das hypnotisierende Moment aber noch stärker in den Vordergrund; selbst die Texte verlieren zusehends an Bedeutung durch Sloans beschwörend-monotonen Gesang. Eher fungiert sein Organ als weiteres Instrument, das von den dahingleitenden Stücken, die das starre Strophe-Refrain-Strophe-Thema deutlich aufweichen, geradezu assimiliert wird. Der kalte Glanz dieses Album, das mit acht Stücken und knapp 40 Minuten Laufzeit fast schon ein bisschen mager ausgefallen ist, verliert nicht einen Moment an Intensität, da sich der Musiker, der übrigens auch als Lehrender am Maryland Institute College Of Art in Baltimore tätig ist, stets auf seine Arbeit und sein Konzept fokussiert. Das bedeutet beispielsweise eine rigorose Einhaltung der spärlichen Melodik, die bei "Dath In the Mirror" aber durch ein anschwillendes Arrangement eine immer stärkere Sogwirkung entfaltet. Lediglich der klassische Synth-Pop-Einstieg von "The River" mit beschwingter Rhythmus-Elektronik lässt kurz aufhorchen, ehe die wabernden Flächen ein weiteres Mal von Vergänglichkeit künden. Wieder einmal ein starkes Werk eines zu Unrecht unbeachteten Künstlers.

[image:image-4]Mangelnde Aufmerksamkeit dürfte Automatic schon aus mehreren Gründen nicht passieren. Der vielleicht schwerwiegendste ist Lola Dompé, die bei dieser reinen Frauenformation das Schlagzeug bedient. Sie ist nämlich niemand geringeres als das Töchterchen von Kevin Michael Dompé. Dieser wiederum ist besser bekannt als Kevin Haskins, der bei einer nicht unbedeutenden Band namens Bauhaus ebenfalls an den Trommelfellen gesessen hat und dem wir die markanteste Schlagzeugfigur verdanken - jene von "Bela Lugosi's Dead". Vor Automatic hat Lola bereits als Teenager zusammen mit ihrer Schwester Diva bei der Formation BlackBlack ihre ersten autarken Schritte unternommen. Dass sie bei der Wahl ihres Sounds sicherlich auch von Vaters Geschichte (und eventuell seiner Plattensammlung) inspiriert hat lassen, mag nicht verwundern. Dass das Debüt "Signal" nun aber so ungestüm in den Annalen des Post-Punks wildert, erfüllt so manchen Hörer mit Freude (und Daddy sicherlich auch mit Stolz). Das Trio aus Los Angeles (neben Lola sind noch Izzy Glaudini und Halle Saxon dabei) hält die Frauenpower dabei deutlich vor ihrer Brust. Schließlich haben sie sich nach einem Song der Go-Go's benannt, der laut Pressetext einzigen rein weiblichen Band, die jemals ein Album allein geschrieben und aufgenommen und damit den Spitzenplatz in den US-Charts belegt hat. Die Meßlatte ist also hoch gesteckt. Ob ihre unkonventionellen, aber zweifellos energiegeladenen DIY-Songs, die kaum die Drei-Minuten-Grenze überschreiten, das auch schaffen, bleibt abzuwarten. Ihre Liebe zu Bands wie Suicide (geradezu plakativ in "Suicide in Texas" verhandelt) und Grauzone ("Hughway" jedenfalls ist in seiner Melodieführung "Eisbär" fast schon unverschämt ähnlich) ist jedenfalls unverkennbar. Ein bisschen "girlie" dürfen sie aber dann auch bei "Strange Conversations" sein, wobei sie auch hier nie in einen Niedlichkeitsmodus verfallen. Das erste "Signal" von Automatic, die zusammengefasst so klingen wie Client, wenn sie vor 35 Jahre zusammengefunden hätten, ist ein deutliches und liefert das beste Besispiel für ein technisch anachronistisches Album ab, das in seiner Radikalität (auch textlich) in die Zukunft verweist.

[image:image-5]Und noch einmal ein weiblich geführtes Projekt! Memoria ist das Brainchild von Tess de la Cour, die als Angetraute von Musiker Henric de la Cour hautnah am Gruftiezirkus dabei ist. Der Gatte leistet bei "Lights Out" auch gleich mal ein bisschen Schützenhilfe. Wobei: Nötig hat sie das nicht! Die Frau weiß nämlich ganz genau, was sie will. Und das ist die Heimholung der Vergangenheit in die Gegenwart. Schließlich strotzt "Cravings" von ganz vielen Querverweisen aus der Trostlos-Rock-Geschichte. Schon die ersten Songs zeigen sich überaus Variabel, von geräuschvollem Post-Punk in "Forever" über elektronisch-ätherischen Spielereien bei "Black Coats/Whitefear" bis hin zum nachgerade euphorisch aufpeitschenden "Splinter", das selbst einem Hymnenschreiber wie Ronan Harris von VNV Nation das Pipi in die Augen treiben muss, so auf ganzer Linie erhaben wirkt die Nummer. Das einzige, was man der Stockholmerin vorwerfen könnte, ist der überschwängliche Hang zum Querfeldeinmusizieren. Kritiker würden "Cravings" als ein Album mit ADHS verspotten. Aber ist das nicht auch ziemlich kleingeistig gedacht? Immerhin haben wir es hier mit einem Erstling zu tun, das durchaus das Recht besitzt, nach allen Richtungen ihre Fühler auszustrecken. Da kann es dann schon passieren, dass einen die Gitarrenriffs von "The Void" niedermähen, nur damit das nachfolgenden "Bound" mit einem minimalen Electro-Beat alles vorherige vergessen macht. Was solls: "Cravings" lebt von Tess' kraftvoller Stimme, die als ausreichend starkes Bindeglied zwischen den Stücken fungiert. Und da jeder Song auf seine Weise funktioniert und die Stockholmerin nicht den geringsten Anschein macht, als wüsste sie nicht, was sie tut, ist auch dieser wildwuchernde Stilmix erlaubt.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.10.2019 | KONTAKT | WEITER: BROR GUNNAR JANSSON VS. FREDDIE DICKSON>

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Webseiten:
www.facebook.com/thexdeadxsound
www.wireslights.com
www.l-avenir.us
automatic-band.bandcamp.com
memoria2.bandcamp.com


Covers © Crazysane Records (The Dead Sound), Oblivion/SPV (Wires & Lights), Soleil Noir (L'Avenir), Novoton (Memoria), PIAS/Rough Trade (Automatic)


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