WE ARE TEMPORARY: "ICH TRAUE KEINEM KONSTRUKT MIT DEM VORANGEHENDEN ADJEKTIV 'WAHR'. DAS IST FAST IMMER BULLSHIT" - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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WE ARE TEMPORARY: "ICH TRAUE KEINEM KONSTRUKT MIT DEM VORANGEHENDEN ADJEKTIV 'WAHR'. DAS IST FAST IMMER BULLSHIT"

Im Gespräch

Familenvater, Ehemann, Hundebesitzer. Klingt nicht gerade nach Rock'n'Roll. Und doch ist Mark Roberts alias We Are Temporary weit weg vom Leben eines langweiligen Normalos. Der Künstler ist ein höchst emotionaler und zutiefst philosophischer Mensch. Sein offenherziges zweites Album "Embers" jedenfalls legt diese Vermutung nahe. Aber auch im Interview betrachtet er das Leben im Allgemeinen und seinen persönlicher Werdegang im Besonderen mit einer bestechenden Klarheit.

Hallo Mark. Die Veröffentlichung Deines zweiten Albums "Embers" als We Are Temporary scheint mir sehr persönlich gefärbt. Hören und sehen wir hier den "wahren" Mark Roberts?
Mark: Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass es so etwas wie das "wahre Ich" oder ein "wahres Wesen" gibt. Wir alle sind in einem ständigen Fluss - intellektuell wie auch emotional und biologisch. Mein erstes Album "Crossing Over" befasste sich mit einer sehr harten Zeit in meinem Leben. Aber "Grenzälle schffen untaugliche Gesetze", wie eines der juristischen Grundsätze lautet. "Embers" besitzt zwar immer noch diese Dämonen, aber insgesamt ist mein Leben während des Entstehungsprozesses ausgeglichener und glücklicher gewesen. Ich würde also sagen, dass "Embers" ein größeres Spektrum an Emotionen abdeckt, als es noch "Crossing Over" tat.

Dein Album besitzt wieder einmal ein wunderschönes Artwork mit gleich zwei Booklets - eines mit den Texten, das andere mit Deinen Gedanken zu jedem Song. Was war der Grund, sozusagen die Interpretation zu Deinen Liedern gleich mitzugeben?
Diejenigen, die mich live gesehen haben oder im Internet verfolgen, wird der persönliche Charakter meiner Geschichten sehr vertraut vorkommen und es nicht als Widerspruch zu dem empfinden, was ich als Künstler mache. Es ist ein starker und universeller Weg, sich mit anderen Menschen zu verbinden, indem man Geschichten miteinander teilt. Es tut uns gut, kann uns sogar ermutigen und dazu motivieren,  uns zu ändern und noch härter für eine Sache zu kämpfen.

Viele andere Künstler allerdings sprechen nicht gerne über ihre Stücke und überlassen die Interpretation den Hörern. Demnach könnte man deine "Nabelschau" auch kritisieren, weil der "rätselhafte" Geist Deiner Songs verloren geht...
Es ist natürlich legitim, so über meine Kunst und die Offenheit, die ich praktiziere, zu denken. Das ist nicht schlimm. Allerdings geht diese Offenheit gegenüber meinen Fans in beide Richtungen. Je mehr ich über mein Leben erzähle, desto mehr erzählen sie auch von ihrem. Ich kann gar nicht mehr aufzählen, wie oft schon fremde Leute nach einem Auftritt zu mir gekommen sind, um mit mir über Songs wie beispielsweise "Now You Can Let Go" zu reden und der Art und Weise, wie offenherzig ich Ängste thematisiere. Viele Menschen leiden still in sich hinein, viel zu beschämt oder von der Gesellschaft eingeschüchtert, ihre wahren Gefühle zu zeigen - selbst jenen, die ihnen am nächsten stehen. Sich aber dafür nicht zu schämen und darüber zu reden, befreit es vom Stigma, entzieht ihm seine ganze Kraft und kann dazu ermutigen, sich mit anderen zu verbinden, um gemeinsam Hilfe zu suchen.

In jedem Deiner Songs steckt ein Teil Deiner Erfahrungen drin. Rufst Du diese Situationen in Deinen Erinnerungen zurück, wenn Du die Lieder singst?
Manchmal ja, manchmal nein. Dieses Level an Introspektion und Sesibiltät kann ich nicht einfach so abrufen. An manchen Abenden ist dieses Gefühl wirklich auf der Bühne, bei anderen Auftriten wiederum fällt es mir schwer, das zu erreichen. Darüberhinaus unterliegen unsere Erinnerungen über die Zeit hinweg Neuinterpretationen und Perspektivveränderungen. Lieder, die beim Schreiben für mich eine gewisse Bedeutung hatten, können Jahre später eine völlig andere bekommen. Das heißt, dass ich versuche, mich in die Person reinzuversetzen, die ich war, als ich diesen oder jenen Song geschrieben habe, um die Ereignisse, dich damals durchlaufen habe und Ursprung meines Textes ist, zurückzurufen.

Wahre Kunst wird aus Schmerz, Leiden und den Gedanken über das Leben geboren. So zumindest lautet das Klischee. Würdest Du dem zustimmen?
Nein. Ich halte nichts von Verallgemeinerungen. Sie sind meistens dumm, polemisch und, obgleich sehr tiefschürfend klingend, flach. Kunst kann viele Formen und Gestalten annehmen, eine Vielzahl von Bedeutungen kommunizieren, und die Inspiration dazu kann von fast überall herkommen. Ich glaube, dass "Embers" ein ganz gutes Beispiels dafür ist. Es ist keine Platte, die in "Schmerzen und Leiden" schwelgt, aber die Komplexität des Lebens und der menschlichen Beziehungen akzeptiert und ausdrückt. Das beinhaltet natürlich auch den Schmerz und das Leiden. Aber ebenso auch das Glück und die Freude, das Banale und Großartige, das Schwere und das Leichte. Grundsätzlich traue ich keinem Konstrukt mit dem vorangehenden Adjektiv "wahr". Das ist fast immer bullshit.

Dennoch wirkst du wie ein authentischer Künstler, dessen Alben nicht zuletzt auch Seelenstripteases sind. Ist es für dich nicht schwer zu ertragen, dass der musikalische Mainstream eher auf gutes Aussehen als auf echte Emotionen Wert legt?
Nicht besonders. Jeder sollte sein eigener Regenbogen sein. Ich brauche keinen Mainstream-Hörer, und keiner von denen wird mir Zeit oder Beachtung schenken. Ich mache das, was ich eben mache, die Menschen können hören, was sie wollen, und wenn wir in Verbidnung treten, bin ich glücklich und dankbar darüber. Aber ich bin zu beschäftigt damit, mein Leben zu leben, Musik zu machen, mit meinem Sohn zu spielen, in den Armen meiner Frau zu liegen oder meinen Hund auszuführen, als dass ich mich mit etwas befasse, das außerhalb meines Kontrollbereichs liegt.

Der Titel Deines Albums "Embers" (zu deutsch: Asche oder auch Glut, Anm. d. Verf.) erinnert mich an Verlust; es symbolisiert in gewisser Weise das Ende von etwas, obwohl da ja auch noch etwas in dieser Asche vor sich hinglühen kann. Ist Dein Album also gleichzeitig das Ende und der Beginn von etwas Neuem?
Ich denke bei "Embers" definitv mehr an die Glut als an das Erlöschen der Flamme. Die Platte handelt von Gesundung, Vergebung und darum, die Splitter des Lebens wieder zu finden und zusammenzusetzen. Damit dies geschieht, muss man sich natürlich dem vergewissern und auch dem Verlust und der Zerstörung eine Stimme geben. Aber wie ich bereits vorhin erwähnte, schwelgt die Platte nicht in diesen Gefühlen. Wenn Du die CD öffnest, ist das erste, was du siehst, ein großer und leuchtender Satz: "Fight the dying light". Das ist es, worum es in "Embers" geht .

Denkst Du oft über den Tod nach?
Täglich! Zwar nicht mit der Disziplin und Intention mancher Zen-Praktiker, aber ja: Ich denke darüber die ganze Zeit nach. Und meine Gedanken prägen viele meiner Entscheidungen iin meinem Leben. Ich habe den Namen We are Temporary auch deswegen gewählt, weil ich unsere Sterblichkeit als eines der fundamentalsten und bestimmensten Tatsachen unseres Lebens begreife.

Der letzte Song "Heaven" handelt von der Zeit nach unserem Leben. Gibt es da wirklich einen Ort, von dem die Kirche uns erzählt - das Paradies? Die Hölle?
In "Heaven" geht es nur in so weit um das Leben danach, als dass es sich um die Verneinung dessen dreht. Zeilen wie "there's nothing here, there's no-one waiting" und "our life is our last goodbye" sind meine Art der Grenzziehung - ganz zu schweigen vom fast unendlich wiederkehrenden "fuck heaven" am Ende des Stückes. Ich persönlich glaube daher nicht an das Paradies oder an die Hölle, an Gott oder an den Teufel, oder an sonstige Formen von Mystik, Übernatürlichem oder Religion.

Dein zweites Album erschien relativ schnell nach Deinem Debüt. Sind also schon Pläne für das dritte vorhanden?
Ja. Ich hoffe, dass ich im nächsten Jahr ein weiteres Album aufgenommen haben werde. Ich ertrinke jetzt schon in Demos, Entwürfen und Aufnahmen von meinem iPhone.

||INTERVIEW: DANIEL DRESSLER | DATUM: 03.04.2018 | KONTAKT | WEITER: DEAD BROTHERS "ANGST" VS. VIECH "HEUTE NACHT NACH BUDAPEST" >

Website
www.wearetemporary.com


FOTO © WE ARE TEMPORARY
COVER © TRISOL/SOULFOOD

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© || UNTER.TON|MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR| IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||

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