9/23: PATRICK WOLF, PERLEE, MALE TEARS, STEINER & MADLAINA, AN EAGLE IN YOUR MIND, BLOOD MOON WEDDING: GANZ GROSSES TENNIS - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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9/23: PATRICK WOLF, PERLEE, MALE TEARS, STEINER & MADLAINA, AN EAGLE IN YOUR MIND, BLOOD MOON WEDDING: GANZ GROSSES TENNIS

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Es waren dunkle Jahre für Patrick Wolf. Der einst von Fans und Presse gefeierte Musiker, der für seine kunstvoll geklöppelten Popsongs, die sich jeder Anbiederung und Kategorisierung entzogen und eine scheinbar eigene Welt erschufen, berühmt wurde und 2011 das ikonische "Lupercalia" auf die Menschheit losließ, wäre fast am Ruhm und dem Trubel um seine Person zerbrochen. Drogenabhängigkeit, Insolvenz, familiäre Schicksalsschläge - die 10er meinten es nicht gut mit Patrick. All diese Momente scheinen sich nun in konzentrierter Form auf "The Night Safari" zu bündeln. Die EP besitzt einen purpurnen Schimmer, in jeder Note des Titelsongs ist der seelische Aufruhr spürbar. Gleichzeitig verwandelt sich das Stück gegen Ende zu einem glitzernden Popsong, der gleichbedeutend mit dem neuen Patrick Wolf ist, der seine Vergangenheit ruhen lassen möchte. Der Sänger croont sich mit einer neu gewonnenen Kraft durch seine Songs, die wieder einmal höchsten Ansprüchen genügen, aber gleichzeitig nicht zu verkopft klingen sollen. "Nowhere Game" zeichnet sich durch spannende Stimmsamples aus, "Acheron" besitzt einen dezent orientalischen Einschlag, "Dodona" ergeht sich elegischen Piano und Streicherlinien, und schlussendlich tritt Patrick Wolf in "Enter The Day" aus dem Dunkel ins Licht, während die verhalten jubilierenden Instrumente an frühere Coldplay-Nummern erinnern. Es ist nur eine grobe Zusammenfassung dessen, was den Hörer in etwa erwartet. Doch was die Songs mit einem machen, kann nicht in Worte gefasst werden, noch dazu, weil jeder "The Night Safari" anders erleben wird. Patrick Wolf weiß aber ganz genau, wie er mit seinen Liedern das Herz erreicht.

Cormac O’Keeffe und Saramai Leech stammen aus Irland und hat es in unsere Hauptstadt verschlagen. Als Wahlberliner und Wahlberlinerin wäre es durchaus naheliegend, dass die beiden vom urbanen Treiben derart inspiriert sind, dass sie als Perlee hektischen oder zumindest extrem tanzbaren Sound kreieren. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ihr Debüt "Speaking From Other Rooms" ist eine Ode an die Langsamkeit. Ihr zwischen Slowcore und Shoegaze wabernder Sound, der sich bei "Lived Out Moons" auch mal kurzzeitig in einen Post-Rock à la Radiohead verwandelt, vermittelt Weite und Freiheit, wirkt aber gleichzeitig auch sehr intim. Saramais dahingehauchte Worte gehen eine perfekte Liaison mit den Kompositionen und dem sonoren Timbre O'Keefes ein. Mit dem abschließenden "The Wave" bläßt das Duo zum finalen Hallali - erst zaghaft durch akustische, fast schon gedankenverlorene Gitarrenspielereien, danach aber immer aubrausender, bis schließlich eine perfekte wall of sound aus den Boxen gleitet, die kurz vor Schluss in sich zusammenfällt und das verlegene Saitenzupfen an der E-Gitarre einem mysteriösen Nachglimmen gleicht. "The Wave" bündelt noch einmal alle typischen Elemente, die "Speaking From Other Rooms" definieren. Oder wie es der Titel des Openers perfekt beschreibt: "Slow Motion Impact". Das Album ist wie ein in Zeitlupe auf die Erde rasender Komet, dessen Einschlag erhaben und fürchterlich zugleich ist. Perlee gelingt mit diesem Album ein vielversprechender Start. Die postiven Kritiken jedenfalls überschlagen sich, und UNTER.TON stimmt gerne in die Jubelarie mit ein.

Lassen Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, nicht vom Artwork von Male Tears' drittem Werk "Krypt" abschrecken. Zugegeben: Das zu begutachtende Kunstwerk ist schon Bad Taste der fragwürdigeren Sorte, die beiden Musiker James Edward und Frank Shark erinnern auf dem Bild wie zwei abtrünnige Mitglieder von Kiss. Musikalisch allerdings überrascht das Duo mit einem sehr eigenwilligen Sound. Sie selber nennen ihn Dark Rave, ist aber genauer betrachtet der Rückgriff auf eine Musik, die im Deutschland der Wendezeit viel Zuspruch erhalten hat: New Beat. "Krypt" besitzt so ziemlich alle Merkmale davon: Fordernder Vierviertelbeat, aggressive, kantige Sequenzen und obskure Lyrics, die sich in die Stücke derart einfügen, dass die Aussage in denn Hintergrund gedrängt wird und das gesungene Wort wie eine weiteres Instrument wirkt. Absolut gelungen ist vor allem "I Expire", das, wüsste man es nicht besser, so oldschool klingt, dass man hinter diesem Stück ein altes Projekt aus Belgien vermutet. Auch "Deal3r" erinnert an diese schummrige Dark-Room-Electronik, die Anfang der 1990er maßgeblich die Hörgewohnheiten beeinflussten. Hier darf neben einer stoisch durchlaufenden Basslinie auch mal wieder der gute alte Orchester-Hit eine tragende Rolle spielen. Male Tears lieben die alten musikalischen Effekte, die weiland begeisterten und heute irgendwie angestaubt wirken, aber deswegen noch mehr Spaß machen, wenn sie von einer jungen Generation Musiker wiederentdeckt werden. "Krypt" jedenfalls besitzt ganz viel nostalgisches Flair und wird bestimmt auch einige Fans gesetzteren Alters einfangen.

Vor rund zwei Jahren veröffentlichten die Schweizerinnen Nora Steiner und Madlaina Pollina ihre zweite Platte "Wünsch mir Glück", auf dem sie nach anfänglichem Experimentieren mit verschiedenen Sprachen auf dem Erstling "Cheers" sich zur deutschen Sprache als Ausdrucksmittel bekannten. Eine gute Entscheidung, die sich auch positiv auf dem neuen Album "Risiko" bemerkbar macht. Denn die beiden Freundinnen aus Kindertagen sind geballte Frauenpower, ihre Texte lassen gerne den dürren Stereotyp eines schüchternen und liebreizenden Pop-Sternchen links liegen und bieten eine ordentliche Portion Realismus. Riskant an dieser Platte, wenn man den Titel für bare Münze nimmt, ist eigentlich nur ihr offener Umgang mit den musikalischen Möglichkeiten. "Wahre Liebe" bietet eine fuzzige Gitarre und angezerrten Gesang, "Paradies" bleibt unverschämt eingängig und "Das will ich sehen" überrascht mit coolen Synthieflächen und Shuffle-Beat. Aber Steiner & Madlaina sind vor allem Erzählerinnen kleiner alltagspoetischer Geschichten, die wie bei "Besser geht's nicht" auch extrem sarkastisch ausfallen können. Es mag unabsichtlich sein, oder auch nicht, aber besonders "Engel vom Hauptbahnhof" klingt wie eine musikalische Verbeugung vor Wim Wenders' "Himmel über Berlin". Gegen Ende fließt "Risiko" in eine kontemplative Stimmung, die sich mit dem wunderbaren Mundart-Stück "Ich blibe und du gahsch" ausbreitet. Eine melancholische Ballade, die, selbst wenn man dem Schwyzerdütschen nicht mächtig ist, Gänsehaut verursacht. Steiner & Madlaina festigen mit "Risiko" ihre Erfolgsgeschichte und bleiben sich dabei sympathisch treu.

Wenn die künstlerische Maxime "anything goes" - also: "Mach, was du willst" - auf jemanden zutrifft, dann sind es Raoul Cavinet und Sophia Achhibat. Der Musiker und die Musikerin teilen als An Eagle In Your Mind die Leidenschaft für Klänge aller Art. Als "Soundnomaden" bereisten sie mit einem alten Mercedes Transporter Orte in Afrika und Europa, um dort verschiedene Klänge aufzunehmen und sie in ihre Kompositionen einzubauen.Verankerten sich die ersten beiden Alben noch stärker im Folk, den sie aber bereits dort schon abstrahierten, geben sie auf dem aktuellen "Intersection" den psychedelischen Komponenten noch mehr Spielraum. Die untergehobene Elektronik beschlägt die Songs mit prupurnem Samt. Man fühlt sich dabei an die schummrigen Trip-Hop-Juwelen von Portishead oder Massive Attack erinnert, wobei Sophias ausdrucksstarke, leicht rauchige Stimme stets das melanchholische Momentum auf ihrer Seite hat. Außerdem sind An Eagle In Your Mind mit dem Anspruch, Folk mit Weltmusik und Elektronik zu kreuzen sogar noch etwas breitschichtiger als die zuvor genannten Granden. Und wenn wie im Titelsong das Stück sich an nahöstliche Klangstrukturen ranrobbt, machen sogar Verweise zu Dead Can Dance Sinn. Treffender kann der Albumtitel daher nicht sein: "Intersection" - "Überschneidung". Das Duo wandelt zwischen den musikalischen Welten: elektronische Musik und Aufnahmeverfahren auf der einen Seiten, Volksmusik(en) auf der anderen. Im Endergebnis bedeutet das, dass beispielsweise "On Your Shoulders" im Blues seinen Anfang nehmen und in orientalische Gesänge münden kann. "Anything goes" eben. Und das ganze in gut.

Und noch ein männlich-weibliches Duo. Blood Moon Wedding ist der Zusammenschluss aus Steve Lake aus Bath in England und Mia Dean aus Oakland in Kalifornien. Zumindest Erstgenannter dürften einigen Kennern der britischen Punkszene ein Begriff sein: Lake ist Frontmann der Anarchotruppe Zounds. Doch das Raubein verwandelt sich bei dieser Kollaboration in einen gezähmten Tiger. Denn ihr erstes gemeinsames Album "Blood Moon Wedding: An American Nightmare" ist genau das: eine gothicaffine Sammlung von Nachtmahr-Gedanken. Zwar knallt "Spell" zu Beginnnoch ganz ordentlich dank massiver Gitarrenriffs (ein Musterbeispiel an perfekter Albumeröffnung, die sofort die Aufmerksamkeit zieht), doch "Wanted" verdunkelt die Atmosphäre, "Murder Ballad" gleitet in einen albträumerischen Sprechgesang. Dabei entwickelt sich zwischen Steve und Mia eine knisternde Spannung, die sich in den starken zweistimmigen Passagen etwas entlädt, nur um im Wechselgesang sich wieder hochzuschaukeln. Schließlich sind die beiden Musizierenden auch Protagonisten ihrer eigenen Story, verloren in der amerikanischen Wüste und in einer dunklen Parallelwelt, die entweder durch die Liebe oder den Tod verlassen werden kann. Die in den Songs verhandelten Themen über Massenmörder und diverse Traumata sind aber mehr als nur ein ansprechendes Schauermärchen in wunderbarer Musikkulisse. Es ist ein bitterböser Kommentar auf die Gewalt eines tief gespaltenen Amerikas, das durch die Amtszeit Trumps noch tiefere Gräben besitzt. Auch wenn das romantische "Pn M2-9" (keine Ahnung, was der kryptische Titel bedeutet) wie eine Versöhnung klingt, ist sie wohl eher nur ein Ausdruck großer Resignation. Aber schön anzuhören.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.05.23 | KONTAKT | WEITER: VNV NATION "ELECTRIC SUN">

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