MIDGE URE "THE GIFT (DELUXE BOXSET)" VS. SOFT CELL "NON STOP EROTIC CABARET (LIMITED SUPER DELUXE EDITION)": WAS NOCH GESAGT WERDEN MUSS - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

Direkt zum Seiteninhalt

MIDGE URE "THE GIFT (DELUXE BOXSET)" VS. SOFT CELL "NON STOP EROTIC CABARET (LIMITED SUPER DELUXE EDITION)": WAS NOCH GESAGT WERDEN MUSS

Kling & Klang > REVIEWS TONTRÄGER > S > SOFT CELL
Mitte der 80er Jahre hatte Midge Ure so ziemlich alles erreicht. Für Visage erschuf er das markante Synthieriff von "Fade To Grey" und hievte Ultravox, bei denen er die Frontmannrolle nach dem Weggang von John Foxx übernahm, mit Nummern wie "Vienna", "Hymn" und "Dancing With Tears In My Eyes" in den Pop-Olymp. Zudem tat er sich als Mitinitiator des Live Aid Festivals sowie Komponist des Songs "Do They Know It's Christmas?" hervor. Der bodenständige Schotte, der dem Synthie-Pop eine sophistische Note verlieh, versuchte sich noch während der Ultravox-Hochphase als Solist. Erste Singles wie "No Regrets" und "After A Fashion" (mit Japan-Bassist Mick Karn eingespielt) besitzen aber noch überdeutliche Parallelen zum Bombast-Klang seiner Stammband.

Ebenfalls ist das 1985 erschienene "The Gift" noch sehr Kind seiner Zeit. Es markiert Midges Versuch, eigene stilistische Wege zu beschreiten. Das gelang ihm noch nicht ganz - und das ist auch gut so gewesen. Denn der immer noch massive Gebrauch opulenter Synthie-Riffs hatte den Hit "If I Was" zur Folge. Das Stück ist bis heute fester Bestandteil der Radiolandschaft und dürfte die Rente des mittlerweile 70-jährigen über Gebühr sichern.

Einziges Problem: Der Hit erzielte vielerorts hohe Chartpositionen und überstrahlt alles auf dem Solo-Debüt, dass man andere Juwelen dabei fast außer Acht lässt. Wie zum Beispiel "A Certain Smile", das den typischen Ure-Sound aus breiten Synthie-Flächen und seinem markanten Gitarrenspiel enthält und zusätzlich mit einer der schönsten Melodien der 80ern ausgestattet wurde. Einen experimentelleren Touch hingegen weißt der Titelsong auf, der an die qualitativ hohen B-Seiten der Ultravox-Singles erinnert, auf denen sich die Musiker austobten.

Erst mit den nächsten Veröffentlichungen "Answers To Nothing" (1988) und "Pure" (1991) formte der Musiker einen eigenen Sound aus, der das Ultravox-Erbe völlig hinter sich lässt und auf einen folkig angehauchten Pop setzt. Auf "The Gift" sind erst Ansätze in Stücken wie "Edo" und"The Antilles" zu erahnen. In der remasterten Version erstrahlen diese Stücke erwartbar in neuem Glanz. Die Deluxe-Boxset wartet überdies mit großartigen Bonussongs auf. CD zwei enthält die bereits genannten Singles der Prä-"The Gift"-Ära sowie die Single- und Extended-Versionen der Einzel-Veröffentlichungen aus dieser Zeit.

Auf der dritten Scheibe taucht der Hörer in die Frühphase der Entstehung von "The Gift" ein und erhält einen Einblick in die Demoaufnahmen der Songs. Darüber hinaus gibt es noch einige Rehearsals von "Fade To Grey" (ohne das markante Synthie-Riff, dafür mit Midges rockigem Gitarrensound) und "No Regrets".

Der Visage-Klassiker ist auf der vierten CD erneut zu hören - als Teil einer Live-Performance aus der Wembley-Arena von 1985, in der Midge natürlich zuförderst natürlich seine Solo-Nummern zum Besten gibt, aber mit "Sleepwalk" auch einen Ultravox-Song im Repertoire hat. Doch das virtuose Synthie-Spiel bleibt in dieser Version außen vor. Das Konzert dokumentiert sehr gut, wie sehr sich der Sänger von seiner alten Band zu lösen versucht, ohne komplett mit ihr zu brechen. Höhepunkt ist aber zweifelsohne die überraschend intime Version von "Do They Know It's Christmas?", vorgetragen in Singer/Songwriter-Manier inklusive putzigem Kinderchor.

Diese ausführliche Version von "The Gift" erzählt durch die Songs die Geschichte dieses Albums, das sicherlich nicht zu den ikonischsten zählt, aber immer noch voll von wunderbaren Nummern ist, die es wiederzuentdecken gilt. Für die hartgesottenen Fans von Midge Ure besteht jedoch kein Zweifel: Diese Box ist ein Pflichtkauf.

Das gleiche gilt natürlich auch für "Non Stop Erotic Cabaret", dem legendären Erstling von Soft Cell. Es war einfach das richtige Album zur richtigen Zeit. Drei Jahre zuvor, 1978 also, kam es zur schicksalshaften Begegnung zwischen Elektronikenthusiast David Ball und dem divenhaften Sänger Marc Almond. Beide studierten an der gleichen Uni in Leeds und fanden schnell eine gemeinsame Schaffensebene. Marcs croonige und mehrere Oktaven umspannende Stimme trifft auf die zum Teil noch rumpelige Elektronik, die Dave aus seinen elektronischen Kisten rausfriemelte.

Zu dieser Zeit gelangte elektronische Musik aus dem Untergrund an die Obrerfläche. Immer mehr Bands verschrieben sich den Synthesizern, und auch immer mehr Labels wurden auf die teilweise irren Sounds aufmerksam. Noch hielt man sich aber zurück mit den großen Verträgen. Erst um das Jahr 1981 rum wurden ehemalige Nischenbespaßer von großen Plattenfirmen unter Vertrag genommen. The Human League veröffentlichten "Dare!", OMD brachte "Architecture & Morality" auf den Markt (beide Bands waren bei Virgin unter Vertrag) und vier milchbubige Männer gingen als Depeche Mode mit ihrem ersten Album "Speak & Spell" an den Start, begleitet von dem noch jungen, aufstrebenden Mute-Label.

Wie gesagt: Zu keinem anderen Moment der Geschichte hätte also "Non-Stop Erotic Cabaret" besser gepasst. Was Soft Cell aber nun von den anderen unterschied, ware ihre Lust an der theatralischen Provokation. Während sich die Konkurrenz bereits fleißig an brav-biederen Pop-Themen abarbeitete, suchte Marc Almond das hedonistische Moment und blickt hinter die Fassade des Bürgertums. Das Album durchzieht eine latente Kinkyness, die sich im schwül-discoiden Sound, aber auch überdeutlich in den Texten der beiden Enfants terribles des Synthie-Pop manifestiert.

Bereits der Opener "Frustration" macht unmissverständlich klar, wohin die Reise geht. Das lyrische Ich, ein typischer Durchschnittsbürger in einer Vorortsiedlung klagt über seine Mittelmäßigkeit. "I am so ordinary", so das Fazit. Sein Wunsch ist es, seine Firma, in der er arbeitet, niederzubrennen, Drogen zu nehmen und ein Rock'n'Roll-Leben führen. Es sind Abgründe wie diese, auf die sich das Duo genüsslich stürzt. "Seedy Films" beleuchtet die schmuddeligen Pornokinos in den Rotlichtmillieus, während "Bedsitter" die Leere eines nihilistischen jungen Mannes beschreibt, der sich von einer Party in die nächste stürzt.

Immer noch großartig: "Sex Dwarf", ein außer Rand und Band geratenes Electro-Stück, das dank eines expliziten Videos der Band auch heftige Kritik einbrachte. Dem gegenüber steht "Say Hello, Wave Goodbye", die letzte Single des Albums, das versucht, sich versöhnlich zu geben. Besonders in diesen zwei Songs findet sich die ganze Ambivalenz von "Non-Stop Erotic Cabaret" wieder, das die Subversivität aus den Frühtagen der elektronischen Popmusik in den Mainstream einpflanzen will. Dieses Spannungsfeld macht die Klasse und auch Zeitlosigkeit dieses Werkes aus.

In der Neuauflage darf sich der geneigte Fan nun auf die ultimative Ansammlung aller tönernen Schnipsel aus dieser Zeit freuen. Neben dem remasterten Album gibt es unter anderem Liveaufnahmen aus den Jahren 2018 und 2021, Radiosessions für BBC und Radio 1, diverse Remixe (unter anderem von The Hacker) sowie frühe Demoaufnahmen, welche die schrittweise Entwicklung der Songs gut dokumentiert. "Non-Stop Erotic Cabaret" wird überdies auch als Platte erhältlich sein - zwar in abgespeckter Form mit "nur" dem Album und den Singles und B-Seiten, aber dafür mit allen Lyrics und einem ansprechenden Text von Adrian Thrills, der das Phänomen dieses Debüts nochmals beleuchtet.

Natürlich sind diese beiden ausladenden Sets nicht für 'n Appel und 'n Ei erhältlich. Dennoch lohnt sich der Kauf dieser beiden Werke, weil sie wie lückenlose Dokumentationen funktionieren und man fast das Gefühl hat, bei der Entstehung dieser großartigen Songs dabei zu sein. Liebhaber dieser Alben werden auf jeden Fall nicht enttäuscht.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 17.11.23 | KONTAKT | WEITER: SMILE VS. ALICE UNDER WATER>

Webseite:
www.midgeure.co.uk
www.softcell.co.uk


Kurze Info in eigener Sache
Alle Texte werden Dir kostenfrei in einer leserfreundlichen Umgebung ohne blinkende Banner, alles blockierende Werbe-Popups oder gar unseriöse Speicherung Deiner persönlichen Daten zur Verfügung gestellt.
Wenn Dir unsere Arbeit gefällt und Du etwas für dieses kurzweilige Lesevergnügen zurückgeben möchtest, kannst Du Folgendes tun:
Druck' diesen Artikel aus, reich' ihn weiter - oder verbreite den Link zum Text ganz modern über das weltweite Netz.
Alleine können wir wenig verändern; gemeinsam jedoch sehr viel.
Wir bedanken uns für jede Unterstützung!
Unabhängige Medien sind nicht nur denkbar, sondern auch möglich.
Deine UNTER-TON Redaktion


POP-SHOPPING


"THE GIFT" BEI AMAZON








Du möchtest diese CD (oder einen anderen Artikel Deiner Wahl) online bestellen? Über den oben stehenden Link kommst Du auf die Amazon.de-Seite - und wir erhalten über das Partner-Programm eine kleine Provision, mit der wir einen Bruchteil der laufenden Kosten für UNTER.TON decken können. Es kostet Dich keinen Cent extra - und ändert nichts an der Tatsache, dass wir ein unabhängiges Magazin sind, das für seine Inhalte und Meinungen keine finanziellen Zuwendungen von Dritten Personen bekommt. Mit Deiner aktiven Unterstützung leistest Du einen winzig kleinen, aber dennoch feinen Beitrag zum Erhalt dieser Seite - ganz einfach und nebenbei - für den wir natürlich außerordentlich dankbar sind.

Cover © Chrysalis/H'art (Midge Ure), Mercury/Universal (Soft Cell)

ANDERE ARTIKEL AUF UNTER.TON
BLANCMANGE "SEMI-DETACHED"
MARC ALMOND "THE VELVET TRAIL"
A FLOCK OF SEAGULLS "REMIXES & RARITIES"
THEATRE OF HATE "WESTWORLD (DELUXE EDITION)"



Rechtlicher Hinweis: UNTER.TON setzt auf eine klare Schwarz-Weiß-Ästhetik. Deshalb wurden farbige Original-Bilder unserem Layout für diesen Artikel angepasst. Sämtliche Bildausschnitte, Rahmen und Montagen stammen aus eigener Hand und folgen dem grafischem Gesamtkonzept unseres Magazins.



                                                      © ||  UNTER.TON |  MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||
Zurück zum Seiteninhalt