NEU SIERRA "SULPHUR AND MOLASSES" VS. MARISSA NADLER "THE PATH OF THE CLOUDS": WEIBLICHE INTONATION - Kopieren - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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NEU SIERRA "SULPHUR AND MOLASSES" VS. MARISSA NADLER "THE PATH OF THE CLOUDS": WEIBLICHE INTONATION - Kopieren

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Geben wir dem Herbstbluesaffen mal ordentlich Zucker. Oder noch besser: "Sulphur And Molasses" - zu deutsch: Schwefel und Sirup. Diese ungewöhnliche Mixtur sollte aber eigentlich das Gegenteil bewirken, nämlich eine Gemütsaufhellung. So jedenfalls kolpotiert es der Jazz-Stanadard "Spring Can Really Hung You Up The Most", das von vielen bekannten Künstlern interpretiert worden ist. Empfehlenswert ist übrigens jene von Ella Fitzgerald.

Doch Neu Sierra hat mit Jazz nur wenig am Hut, auch wenn sie ihre Fünf-Track-EP nach dem eigenartigen Zuckerwasser betitelt hat. In einem Punkt beziehen sich die Stücke der Dänin aber dann doch auf diese Jazz-Nummer. Es geht um die innere Dunkelheit, die selbst das Erwachen der Natur - und schon recht nicht "Schwefel  und Sirup" - nicht vertreiben kann. Oder wie es in dem Song weiter heißt: "my condition must be chronic".

Allerdings kleidet Neu Sierra diese Dunkelheit in die schönsten Klanggewänder. Schon die ersten Takte des Openers "Dirty Me", das sich in seiner Rätselhaftigkeit an die schummrigen Balladen eines Lee Hazlewood anlehnt, fängt einen ein, noch bevor der erste Ton gesungen wird. Und wenn Neu Sierras Stimme einsetzt, dann ist das nicht die einer Nancy Sinatra, sondern erinnert mit ihrer rauchigen Klangfarbe eher an Dusty Springfield.

Doch der Vergleiche sind genug gezogen. Schließlich sind sie nur eine schwache Beschreibung dessen, was man hier zu hören bekommt. Trotz der dunklen Grundstimmung, schwingt auch immer eine gewisse Grandezza in den Songs von Neu Sierra mit. Man kann fast von einer Lust am Leiden sprechen, die sich in diesen fünf Songs materialisiert.

Vor allem "For The Last Time" fährt alle Talente, die die Musikerin besitzt, auf: Ihre warme Stimmfarbe umschmeichelt den üppig produzierten Sound, der sich gewaltig ins Zeug legen muss, um ihr ebenbürtig zu erscheinen. Nicht anders ist es bei "Darkness Fire You", in der Neu Sierra durch die Oktaven tänzelt ohne auch nur die Spur einer Anstrengung. Alles, so scheint es, kommt wie von selbst aus dieser Frau heraus, auch diese tiefe Traurigkeit in ihrem Gesang. Bitte noch mehr davon!

Denn:

Der Herbst ist noch lang. Deswegen ist da ohne Zweifel Platz für eine weitere Frau, die musikalisch sicherlich nicht gerade auf der Sonnenseite steht. Im Vergleich zu Neu Sierra ist Marissa Nadler aber nicht die rätselhafte Erscheinung mit einer gewaltigen Stimme, sondern klingt mit ihrem ätherisch-verhallten Mezzosopran so, als tauche sie mit Anheben ihres Organs in eine Traumwelt ein, in die wir folgen können oder auch nicht. Marissa Nadler bleibt innerlich, lässt uns aber freundlicherweise an ihren Gedanken teilhaben.

Doch ihre Songs sind alles andere als Traumschlösser. In ihren minimal gehaltenen Dream-Folk-Nummern verhandelt sie zwar allerlei Mystisches, versteht sich aber auch wunderbar auf die Erzählung handfester Kriminalgeschichten. Die Wahl der Songs ist, wie bei vielen anderen Alben, die derzeit erscheinen, auch dem Umstand geschuldet, dass die Welt sich in einer Pandemie befindet. Die Musikerin entdeckte in der Zeit des Stillstands, vulgo: Lockdown, ihr Faible für ungeklärte Verbrechen, die sich als Grundlage für ihre Mörder-Balladen erweisen sollten.

Das fängt bereits mit dem ersten Song "Bessie, Did You Make It?" an, das die Geschichte von Bessie Hyde verhandelt, die 1928 zusammen mit ihrem Mann Glenn in einem selbstgebauten Kajak die Stromschnellen des Colorado-Rivers bezwingen wollten und dabei spurlos verschwunden sind. Auch der Titelsong bezieht sich auf die irrwitzige Geschichte des Flugzeugentführers D.B.Cooper, der in den 1970er Jahren aus einer fliegenden Boeing 727 gesprungen ist, über dessen Verbleib aber lange Zeit gerätselt wurde. Erst 2016 hat der F.B.I. die Ermittlungen gegen den Mann eingestellt.

Marissa Nadler wendet aber bei diesen Erzählungen den besonderen Kniff an, sich nicht in einen mysteriösen, gruseligen Tonfall zu begeben, sondern sich den Geschichten auf eine fast schon romantische Art und Weise zu nähern. Da wird in "Well Sometime You Just Can't Say" die berühmte Flucht von Alcatraz, bekannt durch die Verfilmung mit Clint Eastwood, mit Nadlers feinem Humor unterlegt und in einen Shoegazer-Sound gepackt, den man bei diesem Geschichtsstoff am wenigsten vermuten würde. Allerdings verbirgt sich in den Stücken eine dezidiert weibliche Sichtweise, die offen dargelegt wird und ein starkes Selbstbewusstsein der Frauen inkludiert.

Dass dieser auch in ansprechendem Nordic Noir Rock bei Neu Sierra und entrücktem Folk bei Marissa Nadler verpackt seine Wirkung nicht verfehlt, liegt allein an den Musikerinnen selbst, die mit ihren Veröffentlichungen einen perfekten Herbstsoundtrack mit ungezwungen weiblicher Botschaft geschaffen haben.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 29.10.21 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 17/21>

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Cover ©  Five Foot One Records (Neu Sierra), PIAS/Bella Union (Marissa Nadler)

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