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4/19: PROFIT PRISON, NOVOCIBIRSK, THE OVERLOOKERS, LOBBY, KOMPROMAT, PARADE GROUND - NEU ZU ALT ZU NEU

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2019

Man kann über ein noch so großes Musikwissen verfügen, garantiert wird bei den nächsten kurz umrissenen Alben der eine oder andere in die Retro-Falle tappen und sie einer falschen Dekade zuordnen. Es ist aber auch kaum mehr auszumachen, wann welches Werk das Licht der Welt erblickt hat.

Würde beispielsweise steif und fest behauptet werden, bei Profit Prison handele es sich um eine verschollene Band aus den frühen 1980ern, würde sich kaum Widerspruch regen. Nicht nur, dass das vorliegende "Six Strange Passions" nur auf Vinyl zu erstehen ist. Der rein synthetische Sound fängt in seiner Körnigkeit und Analogizität den Zauber der Synthie-Pop-Anfangstage wieder ein, als Kim Wildes "Cambodia", Trans X' "Living On Video" oder das gesamte "Dare"-Album von The Human League einen putzigen Futurismus in die Disco-Musik packten. Die Debüt-EP von Profit Prision ist von eben dieser Energie beseelt. Nicht minder erstaunlich daher die Tatsache, dass Parker Lautenschlager, der Mann hinter dem Projekt, seine ersten musikalischen Sporen ganz woanders verdient hat, nämlich im Hardcore- und Black-Metal-Bereich. Davon ist jetzt nicht mal mehr ein Spurenelement dessen wahrnehmbar. Eher klingen die Songs so, als wandele er schon sein ganzes Leben lang auf schummrigen Italo-Disco-Pfaden. Anders kann man sich die Coolness und auch Selbstsicherheit, die von Stücken wie "Hotel", dem perfekten "Strange Situation" und "Remains" ausgeht, eigentlich nicht erklären. Zu den spröden Retorten-Klängen singt Lautenschlager wie aus einem Telefon. Der seltsam distanzierte und emotioslose Duktus wird zu Profit Prisons Markenzeichen und zieht sich durch die gesamte EP. Einzige Ausnahme bildet das Instrumental mit dem kryptischen Titel "It Was She Who Most Wept And Grieved At The Horror Of Her Fate", dessen expressionistische Stimmung ohne weiteres einen Streifen von Fritz Lang hätte untermalen können. Immerhin, so unkt es die Preseinfo, sei "Six Strange Passions" auch ein Stück weit vom Oeuvre Franz Kafkas inspiriert worden - was man anhand der leicht surrealistisch bis schwer melancholischen Texte durchaus nachvollziehen kann.

Gänzlich ohne Text kommt Novocibirsk aus - von einigen Vocoder-Gesängen, die mehr wie ein weiteres Instrument fungieren, mal abgesehen. Dieses französische Projekt ist allerdings tatsächlich ein gewesenes. Zwischen 1982 und 1993 entstanden unter der Ägide von Hervé Isar diese Nummern, die sich, auch wenn man ihre Vorgeschichte nicht kennt, nach mehr als nur einfaches Sequenzerdropping am Computerbildschirm anhören. In der Tat hat der Musiker einen regelrechten Fuhrpark von Synthesizern in seinem Heimatstudio aufgestellt, sie miteinander vernetzt, verknotet, synchronisiert und die Klänge quasi live auf Band aufgenommen. Von den Experimenten haben es einige dann über die Jahre auf CDrs und D.A.T.s geschafft. Das neu gegründete Production B-Label, eine Tochter der nicht unbekannten französischen Indie-Plattenfirma Boredom, hat diesen Schatz aus dem Minimal-DIY-Electro-Meer gehoben und sie zur ersten Publikation erkoren. Und was für ein Juwel sie da endeckt haben! Bei Novocibirsk treffen moroderesquer Maschinen-Disco-Sound auf Synthie-Schmeicheleien, die sich nicht unweit von Jean Michel Jarre befinden. Etwas unvermittelte Endungen wie bei "Novocibirsk" oder "Die Stadt (Novocibirsk II)", das so klingt, als sei nach Minute 1:20 das Band zu Ende gewesen, vermitteln recht plastisch den experimentellen Charakter dieses Projektes, dessen Hinterlassenschaft wie kleine Puzzleteile wirken - manche geben mehr von sich Preis, manche hinterlassen mehr Frage- als Ausrufezeichen. Die wohl am stärksten wiederkehrende Frage allerdings bleibt jene nach dem warum: Warum hat Novocibirsk nicht weiter gemacht?! Immerhin hat man jetzt die Möglichkeit, dieses schillernde Kleinod subkultureller Synthesizer-Kunst in seiner ganzen Schönheit zu erleben.

Ästhetik spielt bei The Overlookers eine ebenfalls wichtige Rolle. Ihr erstes Album "Teenage Wet Dreams" folgt einem nicht ganz unspannenden Konzept, deren Präambel eine Frage bildet: "Hätte Rock'n'Roll genauso geklungen, wenn es Synthesizer bereits in den 50ern gegeben hätte?" Gut, einige elektronische Instrumente gab es zu dieser Zeit zwar schon, aber sie waren in der Tat noch nicht popkulturell kompatibel weil unerschwinglich. Allerdings weiten sie die Frage auch auf das gesamte Lebensgefühl dieser Dekade aus: Ihre Inspiration speisen The Overlookers nach eigenen Angaben aus schnittigen roten Cadillacs (bei ihnen zum "Moogadillac" gepimpt) und diversen Thrillers. Ihr Faible für diese Zeit haben sie bereits mit ihrer vorab veröffentlichten EP "Driving Fast" musikalisch in Form des gewagten Covers "Unchained Melody" der Righteous Brothers manifestiert, und auch der Titelsong selbst erzählt auf sehr filmische Art und Weise einen Autounfall. Ihre Idee von Synthie-Rock'n'Roll kann man allerdings nicht mit dem Original-Klang dieser Zeit vergleichen. Eher verorten The Overlookers sich bei einem melodiösen Electro-Pop skandinavischer Provenienz, der bei dem etwas organischer klingenden "No Delight" auch das Herz eines Synth-Wavers höher schlagen lässt und in "Speak To The Devil" schummrige EBM-Strukturen anzitiert. Eine solch stilistische Brandbreite lässt erahnen, dass sich hinter diesem Projekt keine musikalischen Novizen verbergen. Tatsächlich sind XY und JB bereits anderweitig aktiv gewesen. Ersterer bei der Band Foretaste, letzterer bei Dekad. Ihr Zusammenschluss bildet eine neue Facette ihres Könnens heraus. Bei allem Retro-Feeling macht "Teenage Wet Dreams" nie einen Hehl daraus, ein Produkt des 21. Jahrhunderts zu sein. Und der, das Album abschließende, Titelsong gehört zweifelsfrei zu den schönsten Electro-Balladen dieses Jahres.

Gerade in Frankreich scheint die Sehnsucht nach den alten Wave-Tagen wie selten zuvor zu prosperieren. Denn unser nächstes zu besprechendes Projekt Lobby stammt gleichfalls aus der "Grande Nation", genauer gesagt aus Pessac im Südwesten des Landes (unweit von den bekannte Weinfeldern um Bordeaux herum), und blickt mit ihrer Musik fast schon wehmütig auf eine Zeit zurück, die so unterhaltsam und spielerisch mit dem Thema Trübsinn umging. "Fragrance" haben sie ihr erstes Werk betitelt. Und wäre die Musik von Lobby tatsächlich ein Duft, um im Bild des Albumtitels zu bleiben, hätte es in der Kopfnote frische Nuancen, in der Herznote deutlich Patchouly und in der Basisnote liebliche Vanille. Konkreter ausgedrückt: Das Fundament aller Lobby-Songs bildet ein deutlicher Hang zu süßen, dem Pop verfallenden Melodien, die von flirrenden Synthielinien und wavig-melancholischen Gitarren getragen werden. Timothée Roze Des Ordons klingt mit seinem zart-schmachtenden Gesang geradewegs so, als wäre es das größte Glück für ihn, von Schwermut beseelt zu sein. Was aber nicht ausschließt, auch mal wie in "Collapse" oder dem mit einer unverschämt eingängigen Keyboardlinie ausgestatteten "Violence In Your Eyes" das Tempo anzuziehen und mitreißende Nummern für die Schwarzdiskotheken zum Besten zu geben. Dennoch ist ihre Liebe zu Proto-Shoegazern wie The Jesus And Mary Chain durchaus hörbar, wenngleich sie ihre Nummern sehr sauber halten und keinerlei Verzerrer auf die Saiteninstrumente legen und sich damit in der Nähe zu Gruppen neueren Datums wie The Pains Of Being Pure At Heart befinden. In "Taking Down" und dem gesangslosen "1881" schimmert aber dann die Liebe zu den "Schuhstarrern" durch. Verwunderlich wäre es nicht, wenn das nächste Lobby-Album sich noch ein wenig mehr in diese Richtung hin öffnet.

Die folgende Langrille, wieder ein Produkt aus Frankreich, besitzt zwar nicht mehr diese starke Verbindung zu den musikalischen Strukturen der 80ern, ist aber auf eine andere Weise mit ihr verbandelt. Denn Kompromat beleben in ihrem astreinen wie druckvollen Electro-Clash das Gefühl alter Keller-Clubs in der deutschen Hauptstadt kurz vor dem Mauerfall. Viele Referenzpunkte lassen sich bei den genauso durchgeknallten wie tanzbaren Nummern von "Traum und Existenz" ausmachen: Das ungelenke Deutsch von Julia Lanoe (die bereits mit Sexy Sushi Erfahrung in Sachen elektronischer Extremtanzmusik machte) erinnert an Stereo Total, ihr Zusammenschluss mit Vitalic, einem Großmeister subversiver wie extrovertierter Diskomusik, darf sich als gleichwertiges Pendant zu Miss Kittin & The Hacker begreifen. Das Ungestüme, Ungeschliffene und Körnige der brodelnden Rave-Sounds eifert mit dem bewusst dilettantischen Gesang Julias um die Gunst der Hörer. Trotz des unbestreitbaren Technobezugs, sind die beiden Kunstschaffenden in ihren Herzen (Post-)Punker, deren Hang zum Existenzialismus in der Mid-Tempo-Nummer "Niemand" am deutlichsten heraussticht. Selbst das große Gefühl der Liebe verhandeln Kompromat über "De Mon Âme À Ton Âme" sehr intim und mit einer unterschwelligen Laszivität, die dank Julias tiefen Timbres zu knistern beginnt. In ihren überdrehtesten Momenten, die sich vor allem in "Herztod" und "Die tausende (sic!) Herbste" manifestieren, erinnert uns das Duo daran, wie viel Anarchie elektronische Musik eigentlich besitzt. Lange Zeit wurde sie durch immer glänzendere Produktionen in den Hintergrund zurückgedrängt. Vitalic und Julia Lanoe gehen als Kompromat keine Kompromisse ein.

Die Zeit, als der elektronischen Klangerzeugung noch eine wesentlich subversivere Sprengkraft innewohnte, hat das Brüderpaar Jean-Marc und Pierre Pauly selber miterleben dürfen. Als die beiden Belgier 1981 Parade Ground ins Leben gerufen haben, entwickelte sich durch die schweißtreibenden Nummern der Deutsch Amerikanischen Freundschaft eine Blaupause für das, was später als Electronic Body Music in die Annalen eingehen sollte. Belgien nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da hier Bands wie Front 242 - und eben Parade Ground - einen vom New Beat beeinflussten Sound entwarfen, der discoide bis melodische Elemente als Kontrapunkt zum harten Synthesizer-Sound beinhaltete. Im Studio funktioniert der Sound einwandfrei, aber auch auf der Bühne haben sich Parade Ground immer stilsicher und selbstbewusst gezeigt. Allerdings mussten fast 40 Jahre ins Land ziehen, bis endlich eine Live-Platte ihr gesamtes Oeuvre abrundet. Sicherlich nicht die schlechteste Idee, denn "Life" ist auf der einen Seite nicht nur ein sauberer Mitschnitt eines Konzertes, das satt aus den Boxen tönt, sondern auch die Vereinigung der Vergangenheit und Zukunft dieses Projekts. Neben Klassikern wie "Goldrush", "Strange World" oder "Moans" (gerade letztere hat mit seinen Gitarren-Einsprengseln ein vages New-Order-Feeling) finden sich fünf Songs aus dem neuen, demnächst erscheinenden Album, darunter die schmissige Wave-Nummer "Tears", und dem abermals elektrolastigen "No". Von Verschleißerscheinungen oder gar Langeweile ist bei den Gebrüdern Pauly also nichts zu erkennen. Es wird ihnen angesichts der überall grassierenden Retro-Welle aber auch leicht gemacht, zu glänzen.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 23.04.2019 | KONTAKT | WEITER: IM GESPRÄCH - EWIAN>


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kompromat-official.bandcamp.com
www.parade-ground.net

Covers © Avant! Records (Profit Prison), Production B (Novocibirsk), Boredom Product (The Overlookers), Solange Endormie (Lobby), Clivage Music/!K7 (Kompromat), VUZ Records (Parade Ground)

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