ZINN "CHTHULUZÄN": UNRUHIG BLEIBEN
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Jedes Jahr kommt er - mehr oder weniger als kleine Randnotiz - in den Nachrichten: der Erdüberlastungstag. Ein symbolischer Tag, an dem nach Berechnungen der Wissenschaftler die vorhandenen Ressourcen für das laufende Jahr erschöpft sind und wir quasi auf Mutter Erde "auf Pump" leben. Dieser Tag ist ein Durchschnittswert aus den nationalen "Earth Overshoot Days", die ganz unterschiedlich ausfallen. So bräuchten die Vereinigten Staaten rein rechnerisch rund fünf Erden, um ihren Lebensstandard zu sichern, aber auch in Deutschland ist der nationale Erdüberlastungstag bereits im Mai, was bedeutet, dass man drei Erden bräuchte, wenn alle Menschen den Ressourcenbedarf wie wir hätten.
Das gewaltig etwas im Argen auf dem Blauen Planeten liegt, wissen wir aber nicht erst seit gestern. Allerdings sind wir auch Meister des Selbstbeschisses und blenden konsequent die dräuende Apokalypse aus. Dass man sich diesen (und anderen, gesellschaftspolitischen) Problemen stellen muss, ist zwingend notwendig, soll die Menschheit noch ein paar weitere Jahre überleben.
Deswegen hat die Wiener Formation Zinn ein neues Zeitalter des Menschen ausgerufen. Auf ihrem zweiten Album "Chthuluzän" geht es um eine neue Definition des Zusammenlebens zwischen den Menschen untereinander, aber auch um die neuen Symbiosen zwischen dem homo sapiens und der Natur. Zinn haben sich diesen Ausdruck aber nicht selbst ausgedacht, sondern beziehen sich auf das 2016 veröffentlichte Buch "Unruhig bleiben" der Schriftstellerin Donna Haraway. Diese sieht im Chthuluzän die einzige Chance der Menschheit auf Überleben. Nicht durch Reproduktion, sondern nur durch Verschwisterung mit all den bedrohten Kreaturen werden wir weiter existieren werden.
Eine steile These der utopischen Feministin, die sich in diesem sehr anspruchsvollen Buch auch von den alten, weißen Erzählungen löst. Zinn taucht mit ihrem zweiten Album in diese Welt ein und überträgt die theoretische Schrift in musikalisch amorphe Stücke, in denen sich verwaschene Synthesizertracks mit leichtfüßigen Indienummern vereinen, in denen Margarete Wagenhofer zwischen beschwörendem Timbre, glasklarer Intonation und theatralem Fatalismus eine erstaunliche Bandbreite offenbart, die sich beim Vorgänger, dem selbstbetitelten Debüt, nur andeutete.
"Chtulucene" führt den Hörer unter brummenden Synthesizern und dahinschleppenden Beats in diese neue Welt, ehe "Stirb, Patriarchat, stirb" in einem schamanischen Akt die weibliche Machtinstanz installiert. Noch einmal darf das neue elektronische Instrument sich in Szene setzen: In "Das Kapital" würmeln und leiern die Sequenzen aus den Maschinen und lasssen selbiges wie einen schlechten Trip wirken, der uns aushöhlt und zerfrisst.
"Apocalypso" entlässt den geneigten Hörer versöhnlich, aber auch mahnend. "Tanz den Apocalypso (...) the end is near" singt die Wagenhofer unter zarten "Shoop Shoop" Chören. Die bittere Pille ist von einem süßen Zuckermantel umhüllt. Es ist diese Uneindeutigkeit, die "Chthuluzän" so atemberaubend und bezaubernd macht. Über die Schlechtigkeit der Welt hätte man zynisch singen können, man hätte Hoffnungslosigkeit verbreiten können. Doch die Wienerinnen sind sich einig: Wir müssen die neue Situation annehmen und darauf reagieren. Jedoch nicht mit Verbitterung oder Tatenlosigkeit. Die einzige Lösung steckt in Haraways Buch, aber auch in Zinns Musik: unruhig bleiben!
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.02.24 | KONTAKT | WEITER: GROSSSTADTGEFLÜSTER VS. PSYCHO WEAZEL>
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© || UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||
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