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DECENCE "ALIVE!": NOCH EINMAL MIT GEFÜHL

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Bewunderung und Mitleid – diese Emotionen steigen unweigerlich in einem hoch, wenn man sich eingehender mit Oliver Mietzners Projekt Decence beschäftigt. Bewunderung einerseits, weil der Mann seit 14 Jahren mit filigranen Elektronik-Kompositionen das Bild seelenloser Computermusik aufs trefflichste widerlegt, Mitleid andererseits, weil er Zeit seines Schaffens immer nur am Wegesrand der Synthie-Pop-Geschichte mäandert ohne größere Aufmerksamkeit zu erhalten.

"First Step", "Constellation Gemini" und "Ianus" lauten die ersten drei Werke, die voll von poetischen Innenansichten mit Hang zur wagnerianischen Grandezza sind. Auch das aktuelle "Alive!" bleibt diesem Prinzip treu und darf sich einer eigenen, höchst kuriosen Geschichte rühmen.

Bereits Ende 2014 das Licht der Welt als digitale Veröffentlichung erblickt, ist die Scheibe nun ein weiteres Mal im Juli dieses Jahres herausgekommen. Ganz so, als wolle sie ihrem Namen (inklusive ihres Ausrufezeichens!) alle Ehre machen. Denn wie beim Cover, bei dem einige wenige grüne Blätter am alten, mit Schnee bedeckten Baum von Leben künden, regt sich auch in der vierten Veröffentlichung immer noch Leben, das sich endlich zur vollen Blüte entfalten sollte.

Wie gesagt: Warum Decence eher als Fußnote der Synthie-Pop-Geschichte gehandelt wird, bleibt fraglich. Zumal das fordernde "Care" zu Beginn des aktuellen Outputs alles mitbringt, was einen gehaltvollen Song ausmacht: flatternde Arpeggio-Linien, scharf schneidende Sequenzen und eine treibende Bass-Trommelfell-Bearbeitung. Und nicht zu vergessen: ein packender Refrain. Einsätze in hiesigen Clubs, die natürlich ein wichtiger Multiplikator sind, sollten da eigentlich vorprogrammiert sein.

Auch die tröpfelnd eingespielten Pianoklänge in das Synthie-Pop-Bett von "Demons" belegen, dass es Oliver wichtig ist, diesem Genre eine neue Qualität zu verleihen, die sich von den üblichen Grenzen und vorhersehbaren Presets der gemeinen Musikprogramme abhebt. Mit anderen Worten: Nach außen hin präsentiert sich Decence als Tanzkapelle mit melancholischem Gestus, baut aber hie und da in ihre Stücke kleine Ecken und Kanten ein, um das Feuer des Interesses an ihrer Musik weiter anzufachen.

Mit dem löblichen Versuch, den Maschinen neue oder vergessene Töne zu entlocken, ist es aber nicht getan. Es sind Gedanken, Worte und Gefühle, die den Liedern erst das notwendige Leben einhauchen. Hier beweisen Oliver und seine Mitmusiker ein sicheres Gespür. So nimmt ein klassisches Streicher- und Pianoarrangement in "Die Zeit steht still..." den Platz ein, um die berührende Geschichte über den Abschied eines geliebten Menschen (womöglich ein Elternteil) mit der nötigen Ruhe zu begleiten. Der Effekt beim Hörer: Gänsehaut pur!

Genau an diesem Punkt wird die Besonderheit von Decence-Kompositionen sichtbar: Sie halten sich nah am Text und intensivieren so das Gefühl der Zeilen. Da funkeln bei "Child(-ish) Song" die Töne wie kleine Sterne am Firmament, während Oliver die göttliche Naivität der Kindheit preist. Und eine nächtliche Schifffahrt durch eisige Gestade (natürlich als Metapher für unseren Lebensweg verstanden) geht bei "Navigate" mit metallenen Klängen und stechender Stakkato-Melodie einher. Man spürt förmlich die Isolation, sowohl geographisch, als auch mental.

Nicht unerheblichen Anteil an dieser intensiven Wahrnehmung hat auch Oliver selbst, dessen wuchtiges Organ besonders in den energiegeladenen Momenten einem Orkan gleich über den Hörer hinwegfegt. Gleichzeitig beherrscht er aber auch die Kunst der Redukton, phrasiert klar und schnörkellos bei getragenen Passagen, singt leise, auch mal mit brüchiger Stimme. Kurzum: Der Frontmann lebt seine Lieder mit jeder einzelnen Note.

Der Spannungsbogen innerhalb von "Alive!" funktioniert aufgrund der mit akkurater Detailversessenheit ausgearbeiteten Stücke derart gut, dass die insgesamt 17 Songs geradezu an einem vorbeifliegen. Von Längen oder enervierendem Füllmaterial keine Spur. Denn in jedem der Elektro-Pop-Songs ist ein Gefühl zu Hause, das den Hörer freundlich hereinbittet – auch wenn es Trauer und Schmerz sind, die einem die Türen öffnen. Musik ist bei diesem Werk" nicht um der Selbstwillen erdacht worden, sondern erfüllt den Zweck des direkten Emotionstransports. Und wer Gefühle in sich trägt, ist noch am Leben. So ist es auch "Alive!", ist es Decence allgemein, trotz aller Widrigkeiten, die bis jetzt von den Musikern ausgehalten werden mussten.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 27.07.16 | KONTAKT | WEITER: D.NOTIVE "SENTINEL" >

Webseite:
www.decence-music.de

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COVER © UNITING SOUND MEDIA

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