10/23: GREY GALLOWS, THE ULTIMATE DREAMERS, SCENIUS, MACGRAY, ESBEN AND THE WITCH, GLAZYHAZE - IN DER SCHWEBE
Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Wer hat's erfunden? Die Griechen! Also das mit dem Theater und dem "phobos" und "eleios", dem "Jammern" und "Schaudern", das jeder Zuschauer laut Sokrates beim Besuch eines Schauspiels erfahren soll, um sich von diesen Affekten reinzuwaschen und eine Karthasis zu erfahren. Auf diesen Ursprung können sich Grey Gallows aus Patras ebenfalls berufen, geht es bei ihren Songs natürlich nicht nur um innere Kämpfe, sondern eben auch - und da sind wir ganz bei der antiken Tragödie - die heilende Kraft dunkler Gedanken. Diese setzen sie auf dem aktuellen Longplayer "Strangers" in einen spannungsgeladenen Dark Wave um, der mit verhallten Synthieflächen und Gitarreneinsprengseln dem Post-Punk-Affen ordentlich Zucker gibt. Das vierte Album zeichnet sich vor allem durch den Einsatz analoger Elektronik aus, die den Songs eine übergebührliche Portion Nostalgie beipackt. Im Vergleich zu ihren Vorgänger wirkt der Sound tatsächlich voller und weiter. Dabei hat sich das Verhältnis zwischen Gitarre und Synthesizer zugunsten der Tasteninstrumente verschoben. "Lies" beispielsweise enthält die klassisch tiefergestimmten Gitarrenparts, die zunächst noch recht exponiert dastehen, aber mit Einsetzen von Konstantins sonorem Gesang (dessen Stimme dieses Mal fest sitzt und selbstbewusster klingt) beginnen die Sequenzen, sich der Szenerie zu bemächtigen. Auch "Deafland" wird durch eine knorrige Keyboardmelodie eröffnet, ehe das Saiteninstrument seinen Platz zu behaupten versucht. Besonders hervorzuheben ist auch "Spirits" mit der Gaststimme von Kriistal Ann, die dem Stück eine Kirlian-Camera-Richtung verleiht.
Dass man das noch erleben darf! Eigentlich ist AC/DCs "Hells Bells" bislang nicht coverbar gewesen. Doch dann kommen The Ultimate Dreamers aus Brüssel und machen aus dem Song, das von der Band als Requiem für den kurz zuvor verstorbenen Bon Scott erdacht worden ist, eine ätherische Cold-Wave-Nummer. Vorbei all der Budenzauber mit schrammeligen Gitarren, selbst die schwere Glocke aus dem Original klingt wie in Luftblasenfolie gepackt und die verwaschenen Synthiesounds werden von einer stoischen Drummachine begleitet. Damit haben The Ultimate Dreamers ein absolutes Highlight innerhalb ihrer ohnehin sehr zu empfehlenden EP "The Echoing Reverie" abgeliefert. Corona sei Dank, denn die Pandemie hat die Mitglieder wieder zusammengebracht. Nach der Veröffentlichung ihrer alten Aufnahmen als "Live Happily While Waiting For Death" veröffentlichen sie nun ganz neue Songs, deren 80er-Eigenleben natürlich deutlich hörbar ist, aber ansonsten nicht großartig über Vergangenes nachdenkt. Schon die trötenden Basssequenzen in "Polarized" schütteln den Staub aus den Kleidern und zeigt, dass die Formation auch mehr als 35 Jahre nach ihrer Gründung immer noch ordentlich Tinte auf dem Füller hat. Zwar wirken einige Songs stets noch so über den Dingen schwebend wie die ersten musikalischen Gehversuche der ultimativen Träumer ("Piano Ghost" ist so eine "Ich bin dann mal weg" Nummer), doch gesanglich und musikalisch ist man mittlerweile schon einige Quantensprünge weiter. Sicherlich trug auch Len Lemeire, in der belgischen Independent-Szener DER Musikproduzent, am guten Gelingen von "The Echoing Reverie" bei.
Jaja, das Leben ist so eine Sache. "Life Is A Thing", das meinen auch Scenius. Auf ihem zweiten Album lässt das Duo ein bisschen in ihre musikalischen Vorlieben blicken. Das spröde "High Low" sagt es aus: "We like old and we like young" - treffender könnte man Scenius' Klangästhetik nicht beschreiben. Steve Whitfield, umtriebiger Musiker und Musikproduzent (unter anderem Klammer) und der französische Sänger Fab Nau, wühlen wieder einmal ganz tief in der Mottenkiste der 80er Jahre und finden so manch obskuren Klang aus den alten Maschinen, den sie aber zurück in die Zukunft holen. Ihrer beider Inspirationsquellen reichen demanch auch von Kraftwerk und Brian Eno bis hin zu Underworld. So beschreiben sie es zumindest auf ihrer Bandseite. Und das passt! "Life Is A Thing" überzeugt einmal mehr mit amorphen Electronummern, die nicht unbedingt das Tanzbein massieren, sondern die gesitige Vorstellungskraft des Hörers triggern. "Hindsight" funkelt dank der glitzernden Sounds wie ein Stern in der Nacht, "Chinese Room" knarzt sich durch die Komposition und verbreitet eine surreale Eleganz wie einst John Foxx' Songs seines Frühwerks "Metamatic". Nicht unerwähnt lassen muss man Fabs glockenhelle Stimme, die mit einem putzigen französischen Akzent beschlagen ist, was den Songs, bei aller Seriösität, eine gewisse Niedlichkeit verleiht (ganz anders zwar, aber im Grundgedanken ähnlich wie bei Pascal Languirand, der als Trans-X mit "Living On Video" einen unkaputtbaren Synthie-Pop-Gassenhauer geschaffen hat). Natürlich ist er beim Song "la même nuit" sprachlich stabil. Insgesamt kristallisiert sich der typische Scenius-Sound nach ihrem Debüt "Enough Fears" immer weiter heraus.
Nach The Ultimate Dreamers kommt mit Macgray das nächste Projekt aus Brüssel. Die Stadt, respektive das komplette Land Belgien, hat sich subkulturell zu einer wichtigen Schaltzentrale gemausert. Auch wenn mitterweile auch dort alles mehr oder weniger seinen (kommerziellen) Gang geht, finden sich hin und wieder atemberaubende Ausreißer wie eben Macgray, der mit seinem zweiten Album "Collapse" die große philosophische Kiste aufmacht: Es geht dieses Mal um nichts weniger als das Werden und Vergehen - von Menschen, Tieren, Pflanzen, ja, sogar von ganzen Sonnensystemen. Alles steuert mit Beginn des Seins auf das Ende zu. Eine unwiderlegbare und grausame These, die Macgray aber sowohl in den einzelnen Songs, trotz seiner wortlosen Kunst, bildreich darstellt und darüber hinaus das Thema von Anfang und Ende zum Sujet des ganzen Albums macht. So beginnt es mit "Origins", einem träumerischen Stück voll von sprudelnden Arpeggios, die wie Wasserspiele den/die Hörer/in zu bezaubern versucht. Auch "Neon" changiert zwischen getragenen Streichern und tanzbaren Synthiearabesken, während ein Beat vor sich hinpluckert und das Entstehen feiert. "Breach" verbindet den zweiten Abschnitt, der nun den Verfall einläutet - natürlich noch immer hochmelodiös, aber mit einem unheilsvollen Unterton. Der Titelsong erweckt sofort die Assoziation zu Philip Glass' atemberaubender Filmmusik zu "Koyaanisquatsi", wobei Macgray nicht so minimal, sondern sehr ausladend Klassik mit elektronischer Musik verquickt und bei "Uprising" in einen retrofutristischen Weltraumklang zurückfindet, der über alle Maßen erhaben ist. "Collapse" ist der Score für einen Film, der noch gedreht werden muss.
Die Zeiten, in denen ein Musikvideo zum Auslöser für den Kaufanreiz wurde, sind schon längst vorbei. Bei Esben And The Witch hat das noch einmal funktioniert. 2010 haben sie aus ihrem Debütalbum "Violet Cries" den "Marching Song" ausgekoppelt und ein intensiv-bedrückendes Video gedreht, das anzuschauen sich lohnt, auch wenn man am Ende eventuell verstört zurückbleibt. Damals tarierten Esben And The Witch die Möglichkeiten zwischen Krach und Traurigkeit aus, veränderten aber im Laufe ihrer Karriere der Parameter. Schließlich lassen sie es auf "Hold Sacred" extrem tiefenentspannt angehen. Sängerin Rachel Davies setzt ihre somnambul-beschwörende Stimme über ein flauschiges Klangbett aus Gitarren im Reverb-Modus und flächigen, aber transparenten Synthieflächen. Dream Pop eben. Aber was für ein bezaubernder! Esben And The Witch trauen sich, die Songs innerhalb nur minimal zu verändern. Dennoch kann ein Ohrenschmeichler wie "A Kaleidoscope" trotz seiner stattlichen Länge von 5:21 Minuten einen bis zum Ende gefangen nehmen. Wer die ungestüme Musik erwartet hatte, die Esben And The Witch einst favorisierten, wird enttäuscht sein. Allerdings muss man sagen, dass das Trio sich selten um Genres geschert und immer nach ihrem Bauchgefühl musiziert hat. Auf "Hold Sacred" dampfen sie nun allen überflüssigen Popanz ein und lassen durch die zurückhaltende Instrumentierung (selbst auf Schlagzeug wurde weitgehend verzichtet) die Sängerin noch mehr strahlen. Ähnlich wie Hope Sandoval entführt sie uns mit ihrem mysteriösen wiewohl tröstenden Gesang zu unseren innersten Ängsten, Wünschen und Hoffnungen.
Wie ein ausgeleiertes Tonband beginnt "Just Fade Away", das erste Album eines vielversprechenden jungen Projekts namens Glazyhaze aus Italien. Irene Moretuzzo und Lorenzo Dall'Armellina sind keine 20 Jahre, aber haben schon eine deutliche Vorstellung davon, wie sie klingen wollen. Nach Wattewolken, nach verschwommenen Super-8-Filmaufnahmen, nach einem sonnigen Tag am Meer. Kurz gesagt: nach Sehnsüchten. Schon Irenes leicht verträumtes Organ malt die Songs in Pastelltönen an, Lorenzo überkreuzt sehr gekonnt treibendes Schlagwerk mit dahinfliegenden Gitarren. Angereichert mit ein paar Bässen, bleibt das musikalische Konstrukt von Glazyhaze aber gut überschaubar. Trotz der klar umrissenen Instrumentierung, gibt es in jedem Song etwas neues zu entdecken. Und seien es kleine technische Schmankerl wie bei "A Glimpse Of Light", bei dem die Gitarrenabteilung ziemlich weit auf dem linken Kanal abgemischt wurde. Das nimmt den schnellen Rhythmus in die Pflicht, das Augenmerk richtet sich unweigerlich darauf. Oder der zunächst unspektakuläre und schlagzeuglose Sound von "Ecstasy Of The Weak", der am Ende sich dann doch in eine Shoegaze-Nummer verwandelt. Glazyhaze reizen die Mittel, die ihnen das Genre zur Verfügung stellt, gekonnt aus, sodass "Just Fade Away" zu einem beachtenswerten Album dieser beiden jungen Künstler geworden ist. Zukünftig sollte aber Lorenzo öfters das Mikro mit der Chanteuse teilen. "Hold My Hand" zeigt nämlich, dass er die Sangeskunst durchaus beherrscht und einen spannenden Kontrapunkt zu den feinen Kompositionen beitragen könnte. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
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