1/23: YANN TIERSEN, KASIMIR EFFEKT, GIAN MARCO CASTRO, BRUEDER SELKE - SAGEN SIE JETZT NICHTS - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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1/23: YANN TIERSEN, KASIMIR EFFEKT, GIAN MARCO CASTRO, BRUEDER SELKE - SAGEN SIE JETZT NICHTS

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Hat da jemand "Fabelhafte Welt der Amélie" gesagt? Auch wenn Yann Tiersen wohl auf ewig mit dem, zugegebenermaßen traumhaften, Soundtrack beim Gros der Menschen in Erinnerung bleiben wird, hat der Bretone beileibe noch mehr auf dem Kasten. Mit seinem neuesten Album "11 5 18 2 5 18" erscheint Tiersen von allen Zwängen befreit und gibt sich seiner Intuition komplett hin. Falls jemand noch mit Fragezeichen vor den Zahlen steht: Das Album ist ein experimentell ausgelegter Epilog zu seinem Vorgängeralbum "Kerber", die Nummern stehen für die Stellen der Buchstaben im Alphabet. Von nun an darf selbst ausgerechnet werden; wir kümmern uns derweil um die Musik. Und die ist, wie gesagt, von einer ganz neuen Qualität. Denn wo "Kerber" die Elektronik fein nuanciert mit den modernen Klassikkompositionen verwoben hat, werden nun pluckernde Sequenzen mit straighten Beats überkreuzt. Würde man es nicht genauer wissen, man könnte den Titelsong oder auch das nachfolgende "11 5 18. 1 12. 12 15 3 8" einem Jean Michel Jarre oder Kraftwerk in die Schuhe schieben. Bei "1 18. 13 1 14 5 18. 11 15 26 8" denkt man sogar, frei nach Johann Sebastian Bach, an den "wohltemperierten Synthesizer", ein klassisch angehauchter Dancetrack im Geiste einer Wendy Carlos, angereichert mit einigen "signature Sounds" aus Kraftwerks "Die Roboter". Dass Album ist eine reine Zufallsgeschichte gewesen und basiert auf den Arbeiten im Vorfeld eines Auftritts auf dem Berliner Modular- und Synthesizer-Festival "Superbooth" anno 2021. Aus den Experimenten für den Auftritt wurde schließlich ein ganzes Album, das Tiersens bisheriges Schafffen zwar nicht in den Schatten stellt, ihn aber als veritablen Instrumental-Elektroniker ausweist, wenngleich auch einige Stücke Sprechgesänge besitzen, aber da wollen wir mal nicht so sein.

Schon mit ihrem Debütalbum "KFX", das auch von UNTER.TON zumindest begeistert besprochen wurde, hat das Hannoveraner Dreiergespann Kasimir Effekt belegen können, wie cool sich Elektronik mit traditionellem Instrumentarium paaren lässt. Damit schlagen sie aufregende Brücken vom Hedonismus der Seventies-Disco-Musik zum urbanen Chill-Sound mit dezenten House-Beats. Nun gehen sie mit "Time Capsule" den Weg weiter. Wie es der Name der EP schon andeutet, dreht sich dieses Mal alles um das schwer greifbare Konstrukt Zeit. Die Gedanken dazu in Worte zu fassen ist schon schwer genug; Generationen von Philosophen haben ihre Köpfe zu diesem Thema heiß laufen lassen. Wie schwer mag es dann sein, Zeit in Noten zu fassen? Doch vielleicht ist das Gegenteil der Fall? Denn die vier Songs dealen mit Zeit, indem sie das Tempo ihrer Songs variieren. "Laika" (benannt nach der Hündin, die als erstes Tier in die Erdumlaufbahn geschickt wurde) gleitet sternenkreuzermäßig durch den Orbit mit funky Tanzflächensounds, während "Voltaire" sich in entspannte Chill-Out-Gefilden wegträumt. "N.A." dagegen pulsiert fiebrig wie die Sekundenzeiger einer Analoguhr. Hier rast nicht nur der Sound, sondern eben auch die Zeit. Erst im abschließenden Titelsong finden wir uns in einem Schwebezustand, bei dem die Zeit scheinbar zum Erliegen kommt, ehe dann doch das von Hand eingespielte Schlagzeug den Puls der Zeit vorgibt. Es ist unüberhörbar, dass sich das Trio auf ihrem neuesten Output Gedanken zu einem der grundlegeden Fragen der Menschheit gemacht haben. Antworten finden sie darauf nicht, sie zeigen nur auf, wie subjektiv sich Zeit anfühlt.

Stilistisch gar nicht so weit vom Erstbesprochenen entfernt ist Gian Marco Castro. Auch er hat UNTER.TON 2019 mit seinem Werk "Out Of The Past"  mehr als überrascht. Der Erstaunlichkeitsfaktor bleibt beim Nachfolger "To Find Dawn Into Dusk" weiterhin hoch. Denn dieses Mal stellt er seine verschiedenen kompositorischen Fähigkeiten krass gegenüber. So beginnt "Stay" mit einer sich sacht aufbauenden Arpeggiolinie, die immer stärker aufhellt. Wer nun denkt, es ginge elektronisch heiter weiter, muss bis "Knowledge" warten, wo erneut Synthesizerkaskaden das dominierende Stilelement bilden. Dazwischen verdingt sich Castro in eine leicht experimentelle Neo-Klassik. Das Hauptinstrument bildet nachwievor das Klavier, das aber bisweilen einigen Verfremdungseffekten unterliegt. So hat er Melodien auf einem Kassettenrekorder aus den 1960ern aufgenommen, was der Aufnahme eine surreale, vergängliche Note verleiht. Der Klappentext verschweigt zwar, in welchem Stück es angewendet wurde, aber "Meanwhile" besitzt diese Grobkörnigkeit. Wo wir gerade noch von Yann Tiersen gesprochen haben: Während jener sich - wenigstens momentan - vollends der Elektronik verschrieben hat, geht Castro den Weg zurück und erinnert an seine von überbordender Einfachheit geprägten Miniaturen. "Mirrors Waltz" ist so eine Nummer, die der Sizilianer perfekt und voller Gefühl eingespielt hat. Auch das Titelstück, eine Komposition für Streicher, lebt von der kontemplativen Redundanz des Themas, Castros eindeutiges Markenzeichen. Die Hinzugabe wesentlich elektronischerer Stücke macht "To Find Dawn Into Dusk" aber noch dynamischer.

Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte kann auf verschiedenste Weise passieren. Im Fall von Brueder Selke, tatsächlich bestehend aus dem Brüderpaar Sebastian (Cello) und Daniel (Klavier), steht ihre eigene Kindheit und das Heranwachsen in der ehemaligen DDR als Bezugspunkt für ihre Kompositionen. "Marienborn", so der Albumtitel, bezieht sich auf den gleichnamigen Grenzübergang zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, der seinerzeit zu den am stärksten frequentierten Transitrouten zählte. Die Selke-Brüder interessiert aber weniger die Frage nach dem Grenzübergang per se als viel mehr die Frage, wie Trennung und Spaltung thematisiert und überwunden werden kann. Ihr Ansatz ist ein höchst anspruchsvoller: Die modulierten Klavierlinien, bei denen selbst die Pedalgeräusche bewusster Teil der Kompositionen darstellen, werden von breitflächigen Streicherdrones getragen, sodass sich einerseits eine tiefe Melancholie Raum verschafft, die aber nie einen zu erdrücken droht. Dafür flirren die Melodien viel zu leichtfüßig durch die Lautsprecherboxen. An manchen Stellen greifen die Stücke einen direkt bei der Seele ("Division" ist so ein eindrucksvoller Moment), während andernorts so etwas wie ein natürlicher Fluss der Töne entsteht ("Transit Traffic"). Mittlerweile fungiert der ehemalige Checkpoint als Mahnmal für die deutsche Teilung. Dort eine Ausstellung mit Fotos und Videos aus dieser Zeit zu veranstalten und diese dann mit der Musik von Brueder Selke zu unterlegen, würde ein perfektes Zusammenspiel ergeben und so vieles erklären, wozu unzählige Guido-Knopp-Dokumentationen nie im Stande sein werden.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 13.01.23 | KONTAKT | WEITER: DIORAMA VS. LOCAL SUICIDE>

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