3/16 WELLE ERDBALL, ROTERSAND, NRT, SUPERIKONE, ON DEAD WAVES: GROSSARTIGES IM KLEINFORMAT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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3/16 WELLE ERDBALL, ROTERSAND, NRT, SUPERIKONE, ON DEAD WAVES: GROSSARTIGES IM KLEINFORMAT

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2016

Das kompakte Erscheinungsbild der Single, beziehungsweise der EP, hat in den letzten Jahren an Bedeutung und Ausstrahlungskraft verloren. Aber warum eigentlich? In Zeiten immer kürzerer Aufmerksamkeitsspannen, was vor allem Lehrkörper aller Art aufs schärfste bei ihren Schülern bemängeln, sind diese kleinen Musik-Häppchen doch geradezu prädestiniert für eine breitere Käuferschicht. Immerhin gibt es sie noch, die großen kleinen Momente, die einen Kauf ohne weiteres Nachdenken rechtfertigen.

Gerade unsere adretten "Moderatoren" vom Radiosender Welle:Erdball haben mit diesen "Kurzsendungen" steten beachtlichen Erfolg. Vielleicht, weil sie die Singles und EPs (Abkürzung für Extended Play) größtmöglich ausfüllen. Da dauert dann eine Single schon mal gerne eine halbe Stunde, und ein Mini-Album, wie auch "1000 Engel" eins geworden ist, würde, rein von der Spieldauer betrachtet, andere vollwertige Alben mühelos in den Schatten stellen. Der Hintergrund dieser Veröffentlichung war allerdings jener, dass bereits im vergangenen Jahr "1000 Engel" als limitierte rote Vinyl-Box über die digitalen Ladentheken der Welt wanderten – und zwar in einer Geschwindigkeit von hastenichgesehen. Nun schieben sie die kleine Silberscheibe auf Anfragen vieler Fans, die der ersten Auflage nicht habhaft werden konnten, hinterher. Eine gute Wahl, denn seit ihrem letzten Album "Tanzmusik für Roboter" scheinen die beiden Köpfe A.L.F. und Honey wieder im kreativen Fluss zu sein. Musikalisch überrascht der Titelsong durch sein hymnisch-getragenes Flair (das in den weiteren Versionen allerdings zu Gunsten einer veritablen Diskothekentauglichkeit zurückgestellt wird), und textlich schaffen sie sogar feine Drehmomente (selbst der Maler Marc Chagall findet Platz bei "1000 Engel").

Doch schon "ReAnimierung" erinnert in seiner elektronischen Kantigkeit an die frühen Tage der Band. Ohnehin gehen Welle:Erdball auf dem aktuellen Mini-Album recht spielerisch mit ihrer eignen Geschichte. Da scheut sich Honey auch nicht, in "Zeitverbot" auch deftigere Ausdrücke zu verwenden, die für die Gruppe damals eher unüblich waren. Und in "Nerdfaktor 42", dem obligatorischen C-64-Kleinod, schwingt gar eine feine Selbstironie mit. Denn ihre ungebrochene Liebe für den alten Kasten in zeitloser Eierschalen-Optik von Commodore hat auch etwas zutiefst freakiges an sich. Zusammengefasst ist "1000 Engel" punktuell zwar überraschend, fügt sich aber schlussendlich wieder logisch in den gesamten Katalog der Band, pardon: des Radiosenders, ein. Für Fans ist diese EP sowieso unerlässlich, schließlich entstand diese Veröffentlichung durch ihre Bitte.

Einen ähnlichen Highlight-Faktor besitzen auch die Singles von Rotersand. Dabei nutzen sie dieses Format noch im klassischen Sinne – als Vorabauskopplung und Appetizer für kommende Alben. Das jüngst erschienene "Torn Realities" vereinigt dabei alles, was einen starken Rotersand-Song ausmacht: treibendes Arrangement, ein zum Zungeschnalzen perfekt ausgearbeiteter Refrain sowie einige geschickt verwobene Klangzitate aus der jüngeren Geschichte der elektronischen Klangerzeugung (man vergleiche mal das alerte Intro von Depeche Modes "A Pain I'm Used To" mit dem flirrenden Zwischenspiel des Titelstückes). Als Kinder der 80er arbeiten die Musiker "Torn Realities" natürlich auch als hübsche Extended Version aus - eine fast schon vergessene Kunst. Und sie nutzen ihre "B-Seite" für die wunderbaren Soundeskapaden ihres Melodienmagiers Jan-Krischan Wesenberg. "Just Sales" ist nämlich der heimliche Star auf dieser, fünf Stücke umfassenden, Single. Eisenharte Bass-Drums und fiebrige Basslinien wechseln sich mit einem fast schon Prodigy-esken, zentnerschweren Breakbeat ab – ein Track, dass das ganze Können der Band darlegt und beweist, dass Rotersand ihre Maschinen jederzeit im Griff haben.

Dass nach diesem Höhepunkt die nachfolgenden Stücke, "Not About You" im DSX Remix und ein Solar-Fake-Neuabmischung von "Torn Realities" etwas abfallen, ist da unvermeidlich, wobei DSX sich sehr viel Mühe mit ihrer Version gegeben haben. Ihr defragmentierter, extrem auf die Rhythmussektion bezogener Remix besitzt eine eigene Spannung und Dynamik, die der Experimentierfreude von Rotersand nur zuträglich ist.

Manchmal kann durch solche Neuabmischungen eine Band erst richtig ins Bewusstsein der Hörer schießen. Bei NRT, einem vielversprechenden Trio aus Hannover und Bochum, war es Vadots wunderbarer Remix von "Marching", der die aktuelle EP "Ambition" abschließt (die Presseinfo spricht zwar von einem Album, aber vier Lieder und drei Remixe sind dann doch etwas wenig für diese Nennung). Der Song über die Stupidität der Menschheit stammt übrigens vom anspruchsvollen Debüt-Album "Time" und zählt auch im Original zum schönsten, was NRT im Laufe ihres vierjährigen Bandbestehens bislang komponiert haben. Dorette Gonschorek besitzt eine außerordentlich voluminöse Stimme und transportiert eine Melancholie, die bei aller Bitterkeit auch etwas ungemein warmherziges, ja, geradezu tröstliches enthält. Das mag auch am elektronisch unterfütterten Rock des Dreiergespanns legen: Die bodenständigen Gitarrenläufe werden durch den häufigen Einsatz von Halleffekten sphärisch überhöht und erinnern bisweilen an Midge Ures Saitenspiel in seiner Frühphase bei Ultravox. Daniel Fasolds Schlagzeugbearbeitung fungiert letztlich wie ein hochwertiger Diesel, der die gut geölte NRT-Maschine dann noch zum Laufen bringt. Ihre Stärke besteht vor allem in der Lust am Experiment. So verzichtet "Quest" beispielsweise komplett auf einen Refrain.

Stattdessen baut sich unter einem stoischen Beat das Gitarrenthema immer weiter auf, was den Hörer fast schon in einen Trance-Zustand versetzt, bis in den letzten anderthalb Minuten Dorette ihre Sinnfragen unkommentiert vorträgt. Und auch "Self-Deception" bringt den musikalischen Höhepunkt erst am Ende, dann aber mit einem überbordenden, cineastischen Arrangement. Gerne zitieren wir hier die ersten Zeilen aus "Marching": "We All March Upstairs, It's Been Predetermined". Eigentlich als Kritk am westlichen Lebenswandel verstanden, wird dieser Satz zum Wunsch für die weitere Karriere für NRT, deren gesamtes Konzept einfach stimmig und ihre Qualität zu groß ist, um nicht gehört zu werden. Ihr Weg muss auch nach oben führen.

Doch es ist schwer, heutzutage in der Musikbranche Fuß zu fassen, geschweige denn von der Kunst zu leben. Malte El Nino kann davon ein - höhö - Lied singen. Sein Projekt Superikone hält sich hartnäckig als Geheimtipp, und das nun schon seit mehr als 15 Jahren. Dieser Umstand ist sicherlich Maltes Organ geschuldet. Nicht, dass er nicht singen kann. Aber seine eigenwillige Stimmfarbe und Phrasierungstechnik müssen erst einmal erschlossen werden. Musikalisch jedoch weiß der Mann aus Köln ganz genau, was er will. Auf seiner aktuellen EP "Zuckervater" bedient er nicht ungeschickt dunkelerotisch-humorvolle Fantasien, wenn er unter transparenten Synthie-Spielereien von einer jungen Frau singt, die sich von einem Lustgreis aushalten lässt, nur um an das Erbe ranzukommen. In den 40 Minuten Laufzeit spannt Superikone den Bogen von der Gegenwart zur Vergangenheit des Projekts. Das etwas nostalgische "Paläste aus Katzengold", welches im letzten Jahr auch als Single erschienen ist, wird im 90ies Synthpopremix noch einmal aufgehübscht, und "Energie", ein elektrisierendes Liebeslied von 2005, klingt in der überarbeiteten Version mit den Hochgeschwindigkeitsbeats fast wie ein Song von Blümchen. In Sachen Querverweise treibt es Malte allerdings mit "1-2-3-Fear" auf die Spitze.

Der Song ist sowohl musikalisch als textlich eine Weiterführung von DAFs "Tanz den Mussolini", nur das jetzt Amerika mit dem Islamischen Staat und den Djihad eine flotte Sohle aufs Parkett legt. Ob so etwas nötig ist, sei mal dahingestellt. Politische Statements finden sich bei Superikone allerdings schon in früheren Jahren: "Deutschland" und zuletzt "Schwarz.Rot.Gold" sind klare Statements für eine friedliche Republik, in der Deutschtümelei und Rechtspopulismus keinen Platz haben. Dass es sich bei Malte aber in erster Linie um einen Musiker mit Leib und Seele handelt, offenbart uns das fast schon introvertierte "Reise zum Mond", das wie ein kleines musikalisches Märchen anmutet und den Streit darüber, ob seine Stimme nun individuell oder grauenvoll klingen mag, für einen Moment vergessen lässt.

Keine Zweifel über ihre Talente dürften indes bei James Chapman, besser bekannt als Maps
, und der Sängerin Polly Scattergood bestehen. Die beiden Künstler sind auf dem Mute-Label beheimatet, und ein gemeinsamer Auftritt beim Short Circuit Festival anno 2011 ließ in ihnen den Wunsch aufkeimen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Zuerst aber brachten sie 2013 ihre eigenen Werke heraus. Maps' "Vicissitude" und Scattergoods "Wanderlust" offenbarten allerdings auch, dass sie sehr viele stilistische Ähnlichkeiten besitzen, allen voran ihr Faible für luftigen, von akustischen Elementen durchsetzten Elektro, durch den immer eine leichte Brise Traurigkeit weht. Auch ihre erste Veröffentlichung "Blue Inside", dass das Duo als On Dead Waves veröffentlichen, folgt einer leichtfüßigen Melancholie, hervorgerufen durch eine pastellige Atmosphäre aus breiten Soundscapes und träumerisch-verspielten Gitarren. Ihr zweistimmiger, weich gezeichneter Gesang vermittelt einen halbwachen Zustand, bei dem Realität in die sich langsam eröffnende Traumwelt auflöst. Dementsprechend romantisch-melancholisch ist das Cover gefärbt, dessen Meeresblick an die Naturgemälde eines Caspar David Friedrich erinnern. Der Begriff Single ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen: "Blue Inside" ist der einzige Song, den das ätherische Duo bislang der Öffentlichkeit preisgegeben hat.

Eigentlich eine fiese Angelegenheit, denn "Blue Inside" fixt den Hörer an, der am liebsten noch mehr von Chapman und Scattergood hören möchte. Vorerst bleibt nur die Repeat-Taste als Alternative. Was aber auch nicht weiter schlimm ist, denn auch nach mehrmaligen Durchläufen offenbart "Blue Inside" immer neue Aspekte und noch nicht gehörte Feinheiten.


||TEXT: DANIEL DRESSLER  | DATUM: 07.04.16 |   KONTAKT  | WEITER:   THYX "HEADLESS" >


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Cover © Oblivion/SPV (Welle:Erdball), Trisol/Soulfood (Rotersand), Timezone (NRT), RGK/Nova Media (Superikone), Mute (On Dead Waves)

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