UNGEMACH "TRÄUME VON ENTFREMDUNG" VS. OBERER TOTPUNKT "TOTENTANZ": MEMENTO THAT F***ING MORI - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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UNGEMACH "TRÄUME VON ENTFREMDUNG" VS. OBERER TOTPUNKT "TOTENTANZ": MEMENTO THAT F***ING MORI

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Jean-Paul Sartre würde vielleicht zu Ungemach sagen, nachdem er "Träume von Entfremdung" gehört hat: "Das nenne ich mal einen lupenreinen Existenzialismus". Denn das Wuppertaler Projekt leidet mit und an der Welt. "Mutter mich entbunden" singt Ungemach unter droneähnlichen Synthesizerwänden. Das erste Stück dieser fulminanten EP beginnt mit dem Schicksal der Geburt, was das Individuum zum Leben verdammt. Eindringlicher und auch pathetischer ist dieser Gedanke wohl nie zu Papier gebracht und in Töne verpackt worden.

Von diesem Moment an beginnt sich der ungemache Kosmos auszuweiten. Wir treffen hier auf einen hellen Geist, der die vergangenen Jahre zwischen extremer Isolation und Orientierungslosigkeit in den wortgewaltigsten Bildern zu verarbeiten versucht, die in einem manischen Sprechgesang dem Hörer dargeboten werden. Wer sich an das formidable "Lang lebe der Tod" von Casper erinnert, das vor fünf Jahren auf die Menschheit losgelassen wurde, wird bei Ungemach eine extremere Herangehensweise mit drastischeren Texten finden, quasi eine letzte Konsequenz dessen, was der HipHopper weiland losgetreten hat.

"Träume von Entfremdung" räumt nämlich auch noch den letzten Hoffnung aus seinen Kompositionen aus. In seinen Liedern schlagen die Beats wie die Boxerschläge in die Magengrube der Hörerschaft, während sich industrielle Sounds und ätzende Synthielinien wie eine todbrigende Krankheit durch die Nummern ausbreitet. Dazu singt Ungemach von einer Welt, die im Begriff ist, zu sterben. Aber nicht nur umweltbedingt, sondern auch gesellschaftlich. Im nicht mehr vorhandenen Miteinander sieht der Musiker das große Unheil. "Wer auf der Strecke bleibt" verhandelt unsere Leistungsgesellschaft, die uns jeglicher Menschlichkeit beraubt und alle, die durch das Raster fallen, mit Verachtung strafen.

Besonderes Augenmerk ist bei Ungemachs Wortwahl zu leisten. Denn diese ist angenehm "veraltet". Die Texte besitzen einen "Sturm-Und-Drang-Sound", der an alte Schriftsteller erinnert. Kostprobe gefällig? "Mir schleicht ein Lachen in die blassfahle Vorlage meiner Totenmaske, als ich grade sah, im höchsten Vogelnest vor’m Fenster klagt die Elster ob der Wahl, welchen ihrer prächtigen Grale sie, um Platz für neue Glanzware zu schaffen, über die Kante schmeißen mag." ("Zivilisiertes Sterben"). Das geht bei weitem über das zweifelhafte Niveau von "meiner lieben Fibel" hinaus.

Vielleicht wird diese Tatsache auch dazu führen, dass "Träume von Entfremdung" bei vielen gar nicht erst ankommt, weil sie sich nicht damit abfinden wollen, diesen extrem traurigen, leidvollen Songs die Zeit zu geben, die es braucht, damit sich die ganze Wucht der Stücke entfalten kann. Angesichts der immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne der Menschen, wird es "Träume von Entfremdung" schwer haben. Doch wer sich noch die Zeit für Musik nimmt, wird von Ungemach reich beschenkt werden. Mit Sicherheit eines der besten Veröffentlichungen dieses Jahres.

Ungemach verhandelt das Sterben in seinen Songs nicht, sondern fokussiert die qualvolle Existenz bin zum Exitus. Den genau anderen Weg schlagen Oberer Totpunkt aus Hamburg ein. Denn ihr sechstes Album "Totentanz" hat ebenfalls den Gevatter als zentrales Leitmotiv. Doch der Umgang damit ist ein klassischer: Wir werden sterben, die einen früher, die anderen später. Also bleibt einem nur eins: die Zeit zwischen Werden und Vergehen so sinnvoll und erfüllt wie nur möglich zu nutzen. Carpe diem, nutze den Tag! Das haben Spoken-Word-Akrobatin Bettina Bormann und ihr musikalischer "partner in crime" Michael Krüger gemacht. Herausgekommen ist das sechste OT-Album, und es ist das bislang beste ihrer Karriere.

Denn sie vereinen sowohl eingängige, für die Tanzfläche prädestinierte Stampfer wie "Dia de los Muertos" (der dem mexikanischen "Fest der Toten" ein ansprechendes musikalisches Gewand verpasst) und dem minimalelektronischen "Jetzt oder nie", mit romantisch wirkenden, hörspielartigen Stücken wie "Mitten ins Herz". Mit insgesamt 16 Songs hat das Trio, sehr unüblich für die heutigen Veröffentlichungen, ein Album mit überdurchschnittlich vielen Liedern auf den Markt gebracht. Die Gefahr bei solchen epischen Werken ist natürlich, dass sie über die Länge ihre Spannung verlieren und einige Nummern als bloße Lückenfüller von minderer Qualität herhalten müssen. Das ist bei "Totentanz" aber nicht der Fall.

Warum das so ist, kann man mit einem Satz beantworten: Die Band hat einen guten Spannungsbogen geschaffen und auch innerhalb ihres Stils alle möglichen Ideen eingebaut, um so von Song zu Song für kleine Überraschungen zu sorgen. So umgibt "Zeit verfliegt" fast schon eine kraftwerk'sche Aura, was sicherlich an der markanten Synthesizerlinie liegt. Dagegen schiebt "Tänzer im Regen" die Post-Punk-Komponente ihrer Songs in den Vordergrund, hervorgerufen durch ein ätherisches Gitarrenspiel.

Besonders sticht "Rien ne va plus" heraus, das mit einem Touch von Jazz und ausgiebigen Trommelsoli beeindruckt. Es sind speziell diese Songs, die das in seinen Fundamenten von klassischen EBM-Strukturen durchzogene Album auflockern und für die Hörerschaft interessant machen. Vor allem transportieren sie die verschiedenen Sichtweisen über den Tod und welche Konsequenzen wir aus ihm ziehen sollten.

Am Ende stehen Oberer Totpunkt dann doch wesentlich positiver da als Ungemach. Während jener nämlich in der Existenz eine Qual sieht, die nur allein vom Tod genommen werden kann, wollen die Nordlichter dem Tod dadurch den Schrecken nehmen, dass man sich voll aufs Leben konzentriert und dieses mit sinnvollen und schönen Dingen füllt. In beiden Fällen jedenfalls wird der Tod thematisiert, was angesichts der heutigen Gesellschaft, die dem Ableben durch Körperoptimierung so lang wie möglich fern bleiben will, schon ein gewagter Schritt ist. Künstlerisch jedenfalls hat das Jenseits als Thema "mordsmäßig" eingeschlagen und für zwei ansprechende Alben gesorgt.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 02.12.22 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 7/22>

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