BLINDZEILE "UNRUHEN" VS. ALL DIESE GEWALT "ALLES IST NUR ÜBERGANG": TONNENSCHWERE LEICHTIGKEIT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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BLINDZEILE "UNRUHEN" VS. ALL DIESE GEWALT "ALLES IST NUR ÜBERGANG": TONNENSCHWERE LEICHTIGKEIT

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Auf die Kunst des musikalischen Understatement verstehen sich Blindzeile prächtig. Ihre drei vorherigen Alben "Wiedersehen" (2017), "Bewegung" (2019) und "Perle" (2021) präsentieren ihre Großartigkeit unbemerkt, fast schüchtern. Dabei hat Sänger und Mastermind David Pümpin eine klare, selbstbewusste Idee von der Klang- und Gedankenwelt von Blindzeile. Deswegen auch der Name: Die Blindzeile ist ein Synonym für die Leerzeile in einem Text; für Pümpin die visuelle Darstellung des Freiraums zwischen Ende und Neubeginn.

Allein hier erahnen wir den feingeistigen Umgang mit der deutschen Sprache und den Versuch, das Wort auf dem Ball der Deutungen ein munteres Tänzchen zu schwingen. "Unruhen" könnte sich dabei rein gedanklich an "Bewegung" anschließen, geht es auf der aktuellen Platte auch um Veränderungen und der Frage nach der Handhabe. "Nach dir" lässt erahnen, dass es sich um das kurze Wiedersehen einer verflossenen Liebe handelt. Die Gefühle des lyrischen Ichs gegenüber der Besungenen kulminieren in der wunderschönen Zeile "solange du fehlst, bist du ein Teil von mir". Große Lyrik, fernab von Kalenderspruchfloskelei, und doch aufs Wesentliche eingedampft und ohne ein Wort zu viel.

Die inneren Befindlichkeiten sind es, die es Blindzeile angetan haben. "Unruhen" verfolgt dabei einen universellen Anspruch, der nicht nur die zwischenmenschliche Ebene eingedenkt, sondern auch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung im Blick hat. Doch auch hier bleibt Pümpin vage und lässt uns viel Interpretationsspielraum. "Der Brand ist entfacht, der Schaden ist angerichtet. Dennoch wird zu Deinen Gunsten berichtet", so beispielsweise ein Auszug aus "Drehung", klingt wie eine verklausulierte Beschreibung machthungriger Spitzenpolitiker, die auch die mediale Berichterstattung zu ihren Gunsten manipulieren.

Der Albumtitel ist Programm: Es herrscht viel Unruhe auf dem neuesten Album. Aber nur in den Texten. Musikalisch bleibt Blindzeile weiterhin einem tiefenentspannten Indie-Pop verpflichtet, der den durchaus drastischen Aussagen etwas von ihrer Schwere nimmt. So schafft es Blindzeile, einerseits ein aus musikalischer Sicht im wahrsten Sinne des Wortes traumhaftes Setting zu generieren und dabei auf der anderen Seite mit eindringlichen Botschaften zum konzentrierten Zuhören auffordert.

Warum David Pümpin mit seinem superben Projekt noch nicht auf größeres Publikum getroffen ist und seit sechs Jahren über den Status des Geheimtipps noch nicht hinausgekommen ist, bleibt mindestens genauso rätselhaft wie die Texte seiner Songs, die man nach dem ersten Hören gleich noch mal vor Ohren haben möchte.

Da ist Max Rieger bereits schon einen Schritt weiterin seiner Vita. Der Mann aus Baden-Württemberg gehört als Frontmann der Band Die Nerven zu den wichtigsten Vertretern der deutschsprachigen Indie-Szene. Darüberhinaus zeigt sich der Mann extrem anpassungsfähig: Als Teil von Die Selektion lässt er schroffe Synthesizersounds nach Vorbild der Deutsch Amerikanischen Freundschaft auf die Menschen los, mit dem Projekt Obstler tummelt er sich in Black Metal Gefilden herum. Ach ja: Und als Produzent ist Rieger auch noch tätig. Friends Of Gas, Casper und zuletzt die altehrwürdigen Swans vertrauten bereits seiner Expertise.

Nun macht Rieger wieder alleinige Sache als All Diese Gewalt. "Alles ist nur Übergang" versteht sich dabei als klare Ansage an die musikbegeisterte Gemeinde, dass Max Rieger immer noch im Begriff, sich musikalisch zu häuten. Zwar vertraut der Mann weiter dunklen, melancholischen Klangstrukturen, doch scheinen hie und da auch ein paar hellere Momente in seinen Kompositionen aufzutauchen. So tritt Rieger nicht nur textlich bei "Ich bin das Licht" aus dem Schatten. Aus den versteckten Synthie-Klängen bricht das Stück final mit einer üppigen Wall Of Sound wie Sonnenstrahlen aus Wolkenlücken hervor. Vom gemeinen Pop-Optimismus ist der Musiker aber immer noch weit entfernt.

Er würde auch nicht passen zu diesem Mann, der in seinen Texten altklug rüberkommt - im Besten Sinne, versteht sich. Rieger scheint eine Seele zu besitzen, die wesentlich länger schon auf der Welt wandelt als der 30-jährige selbst und die sich besonders auf dem aktuellen Werk alle Freiheiten nimmt. Die Musik indes wandert weg von den milchigen Post-Punk-Strukturen und Dark-Wave-Kleinoden hin zu einem offeneren Klang, der im Titelsong sogar entspannte Slides beherbergt.

Immer noch bleibt Rieger bei seiner Lieblingsbeschäftigung: der Introspektion. Diese packt er aber mittlerweile in flauschig-leichte Sounds, die ihn als Sänger hervorhebt und in den Vordergrund stellt. Das kommt einem Stück wie "Etwas fehlt", das sich dem Thema Liebeskummer balladesk und gleichzeitig der Welt entrückt nähert, zugute. An anderer Stelle, namentlich "100.000 Tonnen", versprühen wabernde Drones eine Dark-Ambient-Atmosphäre, wie man sie in dieser Intensität von Max noch nicht gehört hat.

Die emotionale Intensität des vierten Longplayers kann man mit einer Zeile aus "Ab ab ab" beschreiben: "Ungeahntes ausprobieren". All diese Gewalt ist der Schmelztiegel für Riegers große Visionen, sowohl auf textlicher wie auch musikalischer Ebene, die er ohne Kompromisse verwirklichen kann. Es scheint aber so, dass er erst mit "Alles ist nur Übergang" sich dessen wirklich bewusst ist.

"Alles ist nur Übergang" ist der Gesteinsbrocken im Federkleid: nach außen leichtfüßig wirkend, kann er einen erdrücken. Ganz unbemerkt sticht uns Max von hinten durch die Brust ins Auge und lässt uns nachdenklich und melancholisch zurück.

Für Blindzeile und All diese Gewalt sollte das Jahr positiv enden. Schließlich sind ihnen zwei der schönsten deutschsprachigen Alben im Indie-Sektor gelungen, ohne Kitsch und sprachliche Stereotypen. Dazu kommt der Wunsch, sich auch auf tonaler Ebene nicht Althergebrachtem zu widmen, sondern eigene Ideen zu verwirklichen, ganz gleich, ob sie einem breiten Massengeschmack entsprechen oder nicht.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 1.12.23 | KONTAKT | WEITER: X MARKS THE PEDWALK "SUPERSTIOTION">

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COVER © BLINDZEILE, GLITTERHOUSE RECORDS/INDIGO (ALL DIESE GEWALT)

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