WELLE:ERDBALL "FILM, FUNK UND FERNSEHEN" VS. REAKTON "MICRO:MACRO:NANO": AUS DEM LAND DER FRICKLER UND FRIEMLER - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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WELLE:ERDBALL "FILM, FUNK UND FERNSEHEN" VS. REAKTON "MICRO:MACRO:NANO": AUS DEM LAND DER FRICKLER UND FRIEMLER

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Als man Madonna in einem Fernsehinterview mal gefragt hat, was sie mit Deutschland verbindet, polterte ohne langes Zögern "Kraftwerk" aus ihrem Mund. Und in einer Episode der Zeichentrickserie "Die Simpsons" wird der Deutsche als Schnösel mit Pferdeschwanz karikiert, der nur kurz in den Staaten bleiben kann, weil er wieder nach Stuttgart zurück muss, um ein Kraftwerkkonzert zu sehen. Anscheinend ist die pophistorische Außenwahrnehmung auf unser Völkchen doch relativ gut abgesteckt.

Aber woran liegt das? Ist es die Kombination unserer klanglich relativ harten Sprache, die so gut mit den Computer- und Synthesizerklängen harmoniert? Oder ist es die Akkuratesse der Elektronikkkompositionen, die das deutsche Wesen, das als genau und korrekt gilt, besonders hervortretenlassen?

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir dieses Klischee mit Liebe pflegen. Denn immer noch sind Synthesizer und deutschsprachige Texte der absolute Bringer. Welle:Erdball gehören zu der Speerspitze dieser Bewegung. Seit fast 30 Jahren hat der imaginäre Radiosender einen eigenen Kosmos erschaffen, den sie immer weiter ausbauen. Zunächst waren da nur die Alben, irgendwann kamen auch Hörspiele und schließlich auch ein Film, den sie selbst realisierten.

Welle:Erdball denken groß, und so wundert es nicht, dass "Film, Funk und Fernsehen", acht Jahre nach dem letzten possierlichen Studioalbum "Tanzmusik für Roboter", alle Regularien hinsichtlich Länge sprengt. Insgesamt drei CDs, eine davon komplett am Commodore=64 erdacht (als Tribut an den Heimcomputer, der in diesem Jahr sein 40-jähriges feiert), eine andere ein Hörspiel mit vielen Gastsprechern aus der Szene. Und dann ist da eben auch das "eigentliche" Album, das für einige interessante Neuerungen sorgt.

Denn nach dem Weggang des langjährigen Mitstreiters A.L.F. und Sängerin Frl. Venus musste Chefdenker Honey eine komplett neue Mannschaft zusammenstellen. Neben der wieder rekrutierten Lady Lila ist M.A.Peel als zweite Sängerin mit an Bord. Für die Musik zeichnet nun c0zmo verantwortlicht, der die Welle:Erdball-DNA bereits verinnerlicht hat, aber doch einiges anders macht als sein Vorgänger.

Da ist vor allem der stilistische Wandel weg von m Retro-NDW hin zu einem etwas fetter produzierten Sound mit deutlichen Anleihen am knalligen Synth-Wave. Der dezente Tapetenwechsel steht dem Quartett sehr gut, denn bisweilen musste man befürchten, dass Welle:Erdball sich selbst zu kopieren beginnt. "Film, Funk und Fernsehen" straft aber wieder einmal alle Kritiker Lügen.

Ein bisschen DAF-EBM bei "Das Original", klassisches Intermezzi in Form von "Wendy, Walter & die Geschlechtsmaschine" (eine Anspielung auf den Synthesizerpionier Walter Carlos, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzog und fürderhin als Wendy Carlos lebt, zudem ein netter Seitenhieb auf die andauernden Genderdebatten), dazwischen jede Menge erdball'scher Humor, mal derb, mal subtil, und Querverweise auf ihr eigenes Wirken. "Tote Frauen kommen leise" beispielsweise lehnt sich nicht nur vom Titel her an "Nur tote Frauen sind schön", einem Song aus dem 2006er Album "Chaos Total" an, und die C-64-Nummer "Spätfolgen im Autokino" ist das instrumentale Sequel zu den "Mumien im Autokino".

Insgesamt 30 Songs, darunter auch eine sehr gewagte Commodore-Coverversion von David Bowies "Space Oddity", dazu oben erwähntes Hörspiel mit dem Titel "Nick Semloh - Die Mönche aus dem Geisterlabor" (wer sich die bereits vergriffene limitierte Version geschnappt hat, bekommt noch eine weitere CD sowie ein von der Band selbst erdachtes Commodore-64-Computerspiel und andere Welle:Erdball-Devotionalien mit dazu). Das Quartett übertrifft sich wieder einmal selbst.

Während Welle:Erdball das Erbe deutschsprachiger Synthesizermusik zu ihrem eigenen Zweck umformten, belassen Reakton so ziemlich alles wie es ist. Mehr noch: Es scheint so, dass Reakton sich geradezu verpflichtet fühlt, das Kraftwerk-Erbe direkt weiter- und fortzuführen. Denn während die alten Meister (von denen leider auch schon einige verstorben sind) lediglich mit ihren immergrünen Gassenhauern auf die Bühne gehen, wollen Reakton die Idee der musizierenden Mensch-Maschine in das 21. Jahrhundert überführen. Mit Erfolg!

Bereits das 2015 veröffentlichte Debut "Weltall:Erde:Mensch" ließ keinen Zweifel darüber, dass das Projekt einen aufwändigen Masterplan in der Tasche hat. Der Sound bereits klar definiert, die Musikvideos voll computerisiert und von hochauflösender Ästhetik und die Live-Performances professionell durchgeführt und nach Vorbild der Düsseldorfer Kling-Klang-Pioniere aufgezogen (und wie gut, kann man hier sehen), hat Reakton bereits viele Fans um sich scharen können.

Mit dem nun veröffentlichten "Micro:Macro:Nano" tauchen sie, nachdem sie beim Vorgänger die Weiten des Alls, des Internets und der Globalisierung betrachtet haben, ab in die Welt der kleinsten Dinge. Sie blicken ins "Elektronenmikroskop" und entdecken die winzigen Elemente, die das große Ganze zusammenhalten, erforschen das "Atom" unter weichen, aber straighten Beats und schenken dem "Pixel" als kleinste Einheit eines elektronisch übermittelten Bildes die nötige Aufmerksamkeit.

Davon ausgehend, weiten Reakton ihren Blick auf das, was sich daraus ergibt. Aus dem Pixel wird ein Bild, wird das Internet, in dem soziale Medien Fluch und Segen der Menschheit zugleich sind. "Kommunikation" bringt die Misere auf den Punkt: es wird geredet, aber aneinander vorbei, wie es scheint. Dafür gibt es "Entertainment" en Masse, die den homo digitalis zu einer trägen Masse werden lässt. Reakton halten mit Kritik und auch beißendem Humor nicht hinter den Berg, was sie von den doch immer kühl und emotiosnfrei wirkenden Kraftwerk am ehesten unterscheidet.

So ist "Surgery Girl" die konsequente Nachfolge von "Das Model". Eine Frau, die sich regelmäßig unters Messer legt, um in der "Glamourworld" anerkannt zu sein. Wo Kraftwerk distanzierte Bewunderer sind, lassen Reakton ihr Surgery-Girl bei einer weiteren Schönheits-OP auf dem Schneidetisch aus dem Leben scheiden. Ein Schritt, den die Elektro-Pop-Pioniere nie erdacht hätten.

Mit welch feinem Humor Reaktonisten arbeiten, wird bei "Aerosol" deutlich. Dank Corona triggert dieser Begriff ganze bestimmte Vorstellungen. Doch das Stück bricht Aerosol auf das runter, was es ist: Das "Abfallprodukt" beim Laufen, die verbauchte, ausgeatmete Luft. Ein bewusstes Spiel mit den Erwartungen der Hörer.

Auf dem Zweitling präsentiert sich das Projekt musikalisch reduzierter. Die Melodien fallen minimaler aus, der Beatsektion wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist wohl auch dem Konzept geschuldet. "Micro:Macro:Nano" ist der Blick auf die inneren Zusammenhänge. Da würden ausladende Sounds einfach nicht passen. Dennoch bleiben sie ihrem erarbeiteten Konzept treu und verändern es nicht. Immer noch ziehen die Vocoder durch die Gesangsspuren, während Sequenzen und subbassige Bassdrums dem "Musikant mit Taschenrechner in der Hand" ein neues Gewand verpassen. Sie nennen es "Robotronic Music", man kann es aber einfach nur perfekt gemachten Electro-Pop nennen.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 14.12.22 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 8/22>

Webseite:
www.welle-erdball.info
www.reakton.de

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COVER © Nexilis/SPV (Welle:Erdball), Out Of Line (Reakton)

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