VLIMMER "MENSCHENLEERE" VS. SUIR "NOT ALL OF YOUR PAIN IS SELF CHOSEN"VS. THE SECRET FRENCH POSTCARDS "LIFE GOT CLAWS": ULTIMATIVES UNBEHAGEN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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VLIMMER "MENSCHENLEERE" VS. SUIR "NOT ALL OF YOUR PAIN IS SELF CHOSEN"VS. THE SECRET FRENCH POSTCARDS "LIFE GOT CLAWS": ULTIMATIVES UNBEHAGEN

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Nur der freie Geist ist im Stande, Grenzen zu ignorieren. Demnach muss Alexander Leonard Donat ein maximales Freiheitsverständnis haben. Im persönlichen Umgang erlebt man den Musiker und Betreiber seines Labels Blackjack Illuminist als freundlichen und stets gut gelaunt wirkenden Mann. Zudem erfreut er die Social-Media-Gemeinde mit der losen Reihe "Records From The Fridge". Hier präsentiert er in anarchisch-schrulligen Videos verschiedene Alben. All diese Aktivitäten verdichten das Bild eines Künstlers, dessen überbordende Phantasie und kindliche Freude am Spielen schon bemerkenswert ist.

Für die größte Überraschung sorgt Alexander aber mit seiner Musik selbst, die er als Vlimmer unter die Leute bringt. Da zeigt sich der schlaksige Mann als sinnschwerer Grübler vor dem Herrn. Aber auch hier bricht sein anarchisches Wesen Bahn. Bevor er mit "Nebenkörper" seine erste Langrille realisierte, tobte er sich in 18 EPs aus. Diese wirken in der Retrospektive wie die Fingerübungen und Experimente eines Mannes, der etwas Größeres bereits im Blick hat.

Selbst "Nebenkörper", das bereits schon atemberaubende Momente besaß, lässt nicht erahnen, welchen musikalischen Orkan er nun mit dem Nachfolger "Menschenleere" entfacht. Die Kompositionen wirken im Vergleich zum Vorgänger etwas aufgehellt. Gerade im flirrenden, von synthetischen Arpeggios besoffenen "Zielzweifel" zeigt sich seine Eingängigkeit wie ein scheues Reh. Natürlich verhindern Verfremdungseffekte wie beispielsweise atonale Passagen reibungsloses Gleiten in die Gehörgänge, dass der geneigte Konsument trotzdem ein Unbehagen spürt, wenn er Vlimmer-Songs ausgesetzt ist. Sein üppiger Ideenreichtum fordert zum genauen Hinhören, denn in vier Minuten Spielzeit schafft er es, mehr Höhepunkte einzubauen als manch anderer Musiker in ein ganzes Album.

Das liegt sicherlich auch an Donats alerter Stimmlage, die in der Tradition eines Robert Smith von The Cure steht. Vor allem aber sind es Vlimmers bildgewaltige Texte, die sich vor allem um den Menschen drehen. Die Meinung auf "Menschenleere" ist dabei eindeutig: Der homo sapiens ist eine Fehlkonstruktion. Den die in seinem Gattungsnamen enthaltene "Sapientia", vulgo: Weisheit, markiert zwar die Fähigkeit zu intelligentem Handeln, die Realität ist eine andere.

Deswegen ist der Titelsong Utopie und Dystopie in einem. Denn ein menschenleerer Planet ist zwar schrecklich und bedauerlich für unsere Spezies, doch der Erde würde unser Verschwinden gut tun, so dass der "Blaue Planet" wieder in seinen einst paradiesischen Zustand zurückkehrt. Der größte Wermutstropfen aber wäre, dass keiner mehr "Menschenleere" hören könnte. Und keiner würde die wunderbare Verquickung aus Post-Punk, Elektronik und melancholischer Avantgarde mehr goutieren können sowie seine außergewöhnlichen Sujets, wie beispielsweise in "Reynaud", das auf das gleichnamige Syndrom verweist (der Volksmund spricht von Weißfingerkrankheit oder Leichenfinger) aber als Parabel für die Diskrepanz zwischen äußerlicher Kühle und innerlicher Lebendigkeit dient.

Vielleicht ist der Mensch am Ende dann doch nicht ganz so schlecht. Denn wenn er es schafft, wie Vlimmer so wundervolle Töne zu erzeugen und damit zu einem Erkenntnisgewinn beizutragen, der uns daran erinnert, dass wir es selbst in der Hand haben, dass die Erde kein menschenleerer Ort werden muss, ist da noch ein Fünkchen Hoffnung.

Diese ist es auch, die Suir aus Köln antreibt. Denn wie Sänger Denis Wanic erklärt, geht es hier nicht um ein Zelebrieren der Traurigkeit. Vielmehr sollen die Songs so etwas wie eine Heilung, also eine Karthasis im klassischen Sinne bewirken. Ein durchaus nachvollziehbarer Gedankengang: Im Schmerz und in der Trauer reinigt sich die Seele von diesen Affekten. Am Ende von "Not All Of Your Pain Is Self Chosen" sollten wir also nicht mehr gramgebeugt durchs Leben wandeln.

Doch bis dahin entführt uns Suir in ihre musikalische Breitwandtristesse, bei der redundante Gitarrenfiguren mit Halleffekten bis zum Anschlag von stoischen und wie teilnahmslos wirkenden Bassläufen begleitet werden. Wanic kreiert zusammen mit Lucia Seiß einen niederschmetternden Klang, über denen die einschlägig bekannten Sujets wie Angst, Selbstzweifel aber auch Liebe und Zuneigung verhandelt werden.

Die enge Bindung zwischen Warnic und Seiß manifestiert sich in der atmosphärisch dichten Stimmung des Albums. Fast scheint es so, als gibt das Duo einen Teil ihres Innersten preis. Im Vergleich zu den Vorgängern haben Suir einen noch expliziteren Klang geschaffen, der die unruhigen Seelenzustände in Noten zu bündeln versucht. Die Dynamik zwischen verhaltenen Klängen und einem klirrend-kalten Wall Of Sound (beide Seiten stehen sich besonders plakativ in "Vampires" gegenüber) wirken wie die Vertonung einer inneren Unruhe, verbunden mit dem Wunsch nach Seelenfrieden.

Die Mischung aus Shoegaze und Post-Punk, angereichert mit allerlei frostiger Elektronik (man lausche einfach dem enigmatischen "Foreign Mood": hier siedeln sich die Sequenzen in der Nähe des absoluten Nullpunkt an) ist an und für sich nicht neu, ihr absolutistischer Ansatz aber bewirkt eine immense Spannung, der man sich nicht entziehen kann. Wenn bei "Not Accustomed To Be Hurt" noch verlegen gegniedelt wird, weiß man, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm ist. Und Suir enttäuschen uns nicht und geben dem Melancholieaffen ordentlich Zucker.

Das Album wirkt wie eine Meditation über die vergangenen Jahre, in denen so ziemlich alles weggebrochen ist, was einem vertraut war und man lieb gewonnen hat. "Not All Of Your Pain Is Self Chosen" suhlt sich aber nicht im Schmerz, sondern betrachtet ihn - beinahe liebevoll sogar - und lässt ihn ziehen. Bei aller Tristesse ist es eben keine Trauerfeier, der man hier beiwohnt, eher ein Hinnehmen der Gegebenheiten und der Versuch, das Beste daraus zu machen.

Auf der allem übergeordneten Frage, was denn nun der Sinn unserer Existenz sei, ist sicherlich eine legitime Antwort darauf: Das Streben nach Glück. Es als solches aber zu erkennen bedeutet auch, das Unglück zu erfahren. Küchenphilosophisch gesprochen: Das Glück ist die Abwesenheit von Unglück. Zugegebenermaßen eine Binsenweisheit, die aber von The Secret French Postcards (trotz des Namens aber keine französische, sondern schwedische Band) in einen markanten Titel für ihr aktuelles Album gegossen wurde. "Life Got Claws", das Leben besitzt Klauen.

Gerät der Mensch in die Fänge des Lebens, bedeutet das, er ist vom Unglück verfolgt. Liebeskummer, Lügen, Tod...sie alle zehren am Individuum und machen es - zumindest eine Zeit lang - ihm unmöglich, Freude zu verspüren. Dementsprechend geht es bei den frankophilen Ansichtskarten recht humorlos zu. "Just another post punkish band" beschreiben sie sich auf ihrer Bandcamp-Seite. Welch Understatement! Es mag zwar stimmen, dass sie sich in ihrem Sound nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen und in der Tat klassisch melancholisch vor sich hinrocken und schuhstarren. Doch sie sind in ihren Kompositionen und Arrangements so präzise und auf den Punkt, dass jeder Song Clubpotenzial hat, aber auch das gesamte Album in sich geschlossen wirkt. Sie besitzen die seltene Gabe, in ihren Liedern ähnlich, aber nie langweilig zu klingen.

Die in ordentlich viel Hall gegossenen Stücke leben von ihrer weltschmerzlichen Aura. Vor allem "Strain" ist wie ein Spaziergang durch dicht vernebelte Straßen, in denen die Lichter der Laternen diffus sind und die ganze Szenerie in eine eigenartige Stimmung getaucht wird. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird aber "Parasite" in den Tanztempeln der Bundesrepublik gespielt werden. Nicht nur wegen der eingängigen Melodien, sondern vor allem von den markanten Beginn der Strophen: "Get away from the dancefloor", bitten uns The Secret French Postcards. Allein, man will nicht weg, sondern weiter tanzen und sich in ihren (alb)träumerischen Stücken verlieren.

"Dreaming At Last" proklamieren die Nordlichter dann auch. Die Gedanken sind schließlich frei und das fordernde Schlagzeug, das die ganze Post-Punk-Suppe ordentlich durchrührt, fördert Licht und Zuversicht zutage. So ist man bei "Life Got Claws" stets der Widrigkeit des Lebens bewusst, nimmt sich dieser aber mit guten Gewissen an und durchlebt die Phasen schweren Trübsinns, wohlwissend, dass auf jeden Regenschauer auch wieder Sonnenschein folgt.

Die Unwägbarkeiten und Dilemmata unseres Daseins stehen aber bei Vlimmer, Suir und The Secret French Postcards immer im Fokus und bilden die künstlerische Triebfeder für ihr musikalisches Schaffen. Das macht ihre aktuelle Alben für all jene, die aus dem Unbehagen Lust gewinnen und in der Melancholie aufblühen, zu verbindlcihen Empfehlungen.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.12.22 | KONTAKT | WEITER: LMX VS. X MARKS THE PEDWALK>

Webseite:
blackjackilluministrecords.bandcamp.com

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COVER © BLACKJACK ILLUMINIST RECORS (VLIMMER), THIS CHARMING MAN RECORDS (SUIR), COLD TRANSMISSION (THE SECRET FRENCH POSTCARDS)

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