9/16 YANN TIERSEN, THE T.S. ELIOT APPRECIATION SOCIETY, THE LIVING GODS OF HAITI, DELERIUM, B.ASHRA: KLANG-KUSCHELDECKEN FÜR KALTE TAGE
Wenn das Tageslicht bereits am Nachmittag der Dunkelheit weicht. Wenn Blätter ihr farbenfrohes Abschiedskleid tragen, ehe sie vom Baum fallen. Wenn kühle Winde und regenreiche Wolken den täglichen Gang aus dem Haus erschweren. Dann ist es Zeit, sich das Heim wohlig zu gestalten, um den fröstelnden Temperaturen entgegenzuwirken. So manch einer genießt eine Tasse Tee oder gräbt sich mit einem guten Buch in eine wärmende Decke. Kurzum: Die herbstliche Gemütlichkeit greift wider um sich. Und wir halten dafür die passenden Klänge parat.
Natürlich sind diese von einer melancholischen Grundstimmung geprägt, aber immer noch so federleicht, dass sie einem das Gemüt nicht zu sehr verdunkeln. Ein Meister dieser flüchtigen Weltschwere ist der französische Komponist und Multiinstrumentalist Yann Tiersen. Seine bezaubernden Stücke beeinflussten die Stimmung der Filme "Die fabelhafte Welt der Amélie" und "Goodbye Lenin" immens. Nach einigen Ausflügen in eher poppigere Gefilden, dampft er seine Stücke auf dem aktuellen Werk "EUSA" komplett auf ein Piano ein – und offenbart ein weiteres Mal, wie virtuos sein Tastenspiel ist. Dabei ist das aktuelle Werk eine klang-gewordene Hommage an die Bretagne, genauer gesagt: an seinen Wohnort Ouessant. Es handelt sich dabei um die westlichste Insel Frankreichs, weit abgelegen im Atlantik, nur wenige Quadratkilometer groß und einige hundert Menschen beherbergend. Einer von ihnen ist eben Yann, der mit "EUSA" nicht nur den verschiedenen Orte der Insel eine tönerne Markierung verpasst, sondern darüber hinaus die wilde Schönheit, Einfachheit und Ruhe dieses Eilands näherbringt und uns daran erinnert, wie wichtig der Ausstieg aus unserer hyperrasant getakten Welt ist. Verbunden durch die "Hent"-Themen, bei denen der Bretone über auf der Insel aufgenommene Naturgeräusche auf seinem Klavier improvisiert, entsteht so ein Non-Stop-Album, das einen langsam zur Gelassenheit und Kontemplation führt. Einzelne Stücke daraus zu extrahieren und präsentieren, macht da wenig Sinn. Die Lieder stehen für sich und sind doch Teil eines großen Ganzen. Dass die fließenden Pianokaskaden stark an den "Amélie"-Soundtrack erinnern, kommt nicht von ungefähr. Schließlich wurde Yann Tiersens Musik damals für den romantischen Streifen nur "geborgt". Im Original handelte es sich um das Album "La Valse Des Montres", in dem Tiersen die Geschichte eines Schiffbruchs in der Bretagne erzählt. "EUSA" jedenfalls animiert einen geradezu, Ouessant einen Besuch abzustatten.
Danach wäre vielleicht ein Abstecher in die Niederlande ganz reizvoll. Am besten nach Utrecht. Denn dort lebt Tom Gerritsen, der unter dem recht eigenwilligen Namen The T.S. Eliot Appreciation Society einen auf sich selbst zurückgeworfenen Gitarren-Pop aufs Parkett bringt. Zwar beginnt sein zweites Album "Turn It Golden!" mit dem wie ziellos eingespielten "Annie's Lullaby" noch etwas unentschlossen. Doch bereits "The Grand Tour" offenbart den Holländer als folkigen Geschichtenerzähler im Stile eines Ryan Adams. Der amerikanisch gefärbte Habitus rührt sicherlich auch vom Umstand her, dass Tom als Straßenmusiker zwei Jahre lang durch die Vereinigten Staaten tingelte. Das prägt! Manchmal scheinen aber bei ihm die niederländischen Wurzeln durch. So erinnert der Dreivierteltakt und das fast schon selige Akkordeon in "Arthur's Song" an die Shanty-Lieder der Seefahrer, zu denen die Holländer zweifelsohne gehörten. Wunderbar brüchig und nachgerade verletzlich wirkt dagegen "Southern Country", bei dem Gerritsen nur von Gitarre und Piano begleitet wird. Ein idealer Song, um vergessen aus dem verregneten Fenster zu blicken. Ohnehin wandelt sich das noch aufbegehrende Moment der ersten Stücke gegen Mitte von "Turn It Golden!" in impressionistische Kleinode. Erst "The Fall", dessen Geschichte mit einem Autounfall des Protagonisten beginnt, holt den Schwung aus den ersten Stücken zurück. Insgesamt aber stehen TTSEAS für einen äußerst tiefenentspannten Gitarren-Sound, der bisweilen zwar etwas mehr Antrieb vertagen könnte, aber insgesamt einfach zu viele gute Momente hat, sodass ziemlich einförmig geratene Stücke wie "Incantation" gerne in Kauf genommen werden. Tom Gerritsen jedenfalls bleibt ein Name, den es sich zu merken gilt – wie auch sein Projekt The T.S. Eliot Appreciation Society (nochmals zum Mitschreiben erwähnt).
Und noch ein rascher Ortswechsel, wenigstens dem Bandnamen nach: Zwar kommen The Living Gods Of Haiti nicht aus besagtem Inselstaat, sondern sind ein Zusammenschluss aus der britischen Sängerin, Schriftstellerin und Videokünstlerin Rebekah Dobins und dem Produzenten Marc Collins, der unter anderem durch seine Arbeit bei Nouvelle Vague Bekanntheit erlangte. Ihre Musik jedoch könnte aus diesem exotischen Teil der Erde stammen. Die mysteriösen Masken, die das Cover zieren, stimmen bereits auf die rituell gefärbten Klänge von "Bone Dry" ein. Dobins' düster-opernhafte Stimme geht mit den perkussiven Elementen eine rätselhafte Liaison ein, die den Hörer förmlich vor der Musikanlage in Ehrfurcht erstarren lässt. Selten nur, wie bei "The Hunt, The Harvest, The Sea" oder dem wunderbaren "Killing Lotus" füllen die Bassdrums ordnungsgemäß den Viervierteltakt aus. So anschmiegsam sie auf der einen Seite klingen, zeigen The Living Gods Of Haiti mit "A Winter In Summer", dass es auf der anderen Seite lediglich enigmatischer Synthesizer-Klänge bedarf, um eine knisternde Spannung zu erzeugen. Dabei bleibt Dobins stets Hauptakteur der Szenerie. Ihr leicht verrauchtes, entfernt an Annie Lennox erinnerndes Organ bildet eine angenehme Alternative zu den momentan in Mode geratenen Sprechsängerinnen mit dünnem Stimmchen oder den überpathetischen Schreihälsen. All das ist ihr fremd. Rebekah singt geradeaus, schnörkellos und scheint dabei ganz bei sich zu sein. Die esoterische Symbolik ihrer Texte wirken daher auch greifbar und nachvollziehbar. Die Sängerin repräsentiert nicht nur sich selbst, sondern fungiert auch als Medium für die Sache. "Bone Dry" hält die perfekte Balance zwischen transzendenten Klängen und geerdeten Rhythmen. Irdisch-überirdisch mäandern die Living Gods Of Haiti durch unsere Gehörgänge und erzählen uns von einer vergangenen Zeit, untermalt mit den musikalischen Möglichkeiten der Gegenwart.
Eigentlich hätte "Mythologie" als Titel besser für The Living Gods Of Haiti gepasst anstelle von "Bone Dry". Doch diesen haben sich Delerium für ihr neuestes Werk ausgesucht. Der Albumname, sogar in deutscher Schreibweise, und das etwas walkürenhaft wirkende Bild täuschen allerdings: Es werden hier keine Mythen besungen oder irgendwelche religiösen Themen verhandelt. Im Grunde geht es nur um einen Glauben: den an die Liebe. Texte über Leidenschaft, Sehnsucht und die Leere, die man verspürt, wenn der Partner nicht an seiner Seite weilt, machen "Mythologie" zu einem Meisterwerk des Kuschel-Electro. Schwelgerisch-träumend und verschwenderisch-melodiös beginnt Delerium denn auch mit "Blue Fires". Hier vereinen sich wieder einmal die weichen Seiten von Rhys Fulber und und Bill Leeb, ansonsten besser bekannt als die Industrial-Könige von Front Line Assembly. Doch so schonungslos die beiden Jungs aus Vancouver den elektronischen Geräten quälend harte Sounds entlocken, so sehr scheinen sie als Delerium die Synthesizer liebevoll zu streicheln. Am Ende kommen dann solch wunderbare Dream-Synth-Pop-Nummern wie "Zero" heraus: Dezente Pianoklänge, sanft anschiebende Basslinien und jede Menge atmosphärisch dichte Sounds lassen den Hörer in eine rosa Wolke fallen, die ihn sanft in die Traumwelten entführt. Wo früher noch Ethno-Elemente den Delerium-Nummern etwas rätselhaftes verliehen haben, kehrt man nunmehr immer stärker in den elektronischen Mainstream ein, ohne aber sich vollkommen von ihm vereinnahmen zu lassen. Das liegt vor allem daran, dass Leeb und Fulber sich dieses Mal vielleicht noch stärker als sonst auf eine abgerundete aktuelle Produktion mit vielen neuen Akzenten im vokalen Bereich konzentriert haben. Eingefleischten Fans mag das ein Schritt zu weit in Richtung Angepasstheit gehen. Aber da eben erwähnte "Zero", die flirrend-angesägten Sequenzen bei "Physical", das träumerische Moment bei "Blue Fires": So viele substanzielle Ohrwürmer haben Delerium noch nie geschaffen. Und allein das macht "Mythologie" zu einem Meilenstein ihrer Vita.
Kalte Tage sind natürlich auch prädestiniert für kuschelige Zweisamkeit. Mit den oben genannten Alben lassen sich gut und gerne einige Stunden gemütlichen Beisammenseins verbringen. Wer es etwas spiritueller mag, kann sich mit B. Ashras neuestem Werk "Venus Meditation" der Liebe auf einer geistigen Ebene annähern. Die Venus ist nicht nur der zweite Planet unseres Sonnensystems, sondern auch das Symbol für Liebe, Erotik, Weiblichkeit und Schönheit. Nach bekanntem Prinzip der Oktavierung, wie sie bei den Künstlern des Klangwirkstoff-Label üblich ist, wird der Planetenumlauf um die Sonne in elektronische Musik transferiert. Wie schon bei der "OM Meditation", bei dem B. Ashra das Erdenjahr als klanglichen Ausgangspunkt ausgesucht hat, wird dieses Mal ebenfalls eine ganze Stunde über ein gleichbleibender Ton erzeugt, über den weitere Drones lagern und wieder verschwinden. Gespickt mit einzelnen Tönen, die wie Sternschnuppen vorbeiziehen, und angereichert mit Delphin-Geräuschen (dem der Venus beigeordnetem Tier), geht von dieser hochqualitativen Meditations-CD eine wohlige Wärme aus. Ob es einem Liebespaar vielleicht zusätzliche erotische Phantasien beschert oder den Akt als solches zu einem überirdischen Erlebnis werden lässt, mag an dieser Stelle nur reine Spekulation sein. Am besten selbst ausprobieren. Dass dieses Klangbad tiefenwirksame Entspannung verspricht, steht aber außer Frage. Wieder einmal gelingt es B.Ashra, nicht nur Töne sanft zu kombinieren, sondern ihre heilende und kräftigende Wirkung zu maximieren – ohne diese unfreiwillig komischen Anleitungen zum meditieren, wie sie bei vielen New-Age-Platten Usus sind. Hier reicht nur die reine Kraft der Musik, um eine weit strahlende, innere Flamme zu entfachen, gegen die Regen, Schnee und eisige Winde nichts aussetzen können.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 14.11.16 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 8/16 >
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Webseiten:
www.yanntiersen.com
www.thetseliotappreciationsociety.com
www.thelivinggodsofhaiti.com
www.facebook.com/Delerium
www.b-ashra.de
Cover © Mute/GoodToGo (Yann Tiersen), Greywood Records/Timezone (The T.S.Eliot Appreciation Society), Kwaidan Records (The Living Gods Of Haiti), Metropolis/Soulfood (Delerium), Klangwirkstoff/Silenzio (B.Ashra)
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