CRESTFALLEN "CHAMBER WORKS" VS. TEHO TEARDO & BLIXA BARGELD "NERISSIMO": SCHWÄRZESTE KAMMERSPIELE
In Zeiten, in denen in immer schnellerer Abfolge gleichermaßen erschreckende wie wundersame Ereignisse über den Menschen hinwegfegen und ihn taumelnd und haltlos in seiner Existenz zurücklassen, scheint der Wunsch nach Zerstreuung mächtiger denn je zu sein. Den Lärm der Welt bekämpfen sie mit noch mehr Lärm, der undefiniert und zähflüssig aus den Diskotheken dringt. Nur, um danach in eine watteartige Leere zu gleiten, die eine trügerisch angenehme Taubheit verspricht. Anstatt sich aber von äußeren Einflüssen vereinnahmen zu lassen, wäre es doch angebrachter, den inneren Stimmen, der Seele zu lauschen.
Vielleicht würde man so zauberhaft anmutende, bisweilen mysteriöse Klänge hören, wie sie uns Alexander Zafiropoulos alias Crestfallen auf seinem ersten Album "Chamber Works" offeriert. Als "song cycle for intimate salons and small audiences" definiert er sein elegantes Debüt, an dem er ganze acht Jahre gefeilt hat. Tatsächlich sind die klassisch-viktorianisch angehauchten Kammer-Gothic-Miniaturen nichts für große Hallen, sondern eher für holzvertäfelte Wohnzimmer mit Kerzenleuchtern und antikem Mobiliar.
Ganz im Geiste von Anthony & The Johnsons und Current 93 geraten die Lieder zu introspektiven Tagebucheinträgen des Musikers. Schließlich erzählt uns Alexander seine Geschichte, die von einer schwierigen Kindheit geprägt ist. All die Ängste und Zweifel hat er in gedämpfte, mollschwangere Orchester-Arrangements gepackt, die nie den Versuch machen, auszubrechen, sondern immer ganz nah beim Sänger bleiben, um ihn wie Schutzschilde zu umgeben.
So fühlt man sich beim Glockenspiel in "Wax Arlequin" an den traurigen Clown Pierrot erinnert, der mit weiß geschminktem Gesicht und einer schwarzen Träne auf der Wange als Sinnbild der Melancholie allen Weltschmerz in sich zu vereinen scheint. Apropos Melancholie: Auch das überaus gelungene Cover präsentiert geradezu beispielhaft all die Vanitas-Motive aus der bildenden Kunst.
Die Sanduhr, der auf alten Büchern gestützte Totenkopf, dazu Alexander am linken Bildrand in nachdenklicher Pose: Hier wird die Kontemplation der Niedergeschlagenheit offen zur Schau gestellt, was vielleicht auch ein heilsamer Prozess, eine Art Karthasis bei Alexander – und letztendlich auch beim Hörer – bewirken kann.
Gerne baut der Musiker, der sein Debüt komplett in Eigenregie aufgenommen hat, kleine Pausen in seine Seelenvertonungen ein. Dieses Zögern auf musikalischer Ebene verstärkt nur noch den Eindruck, dass wir es hier mit einer zurückhaltenden, sensiblen Natur zu tun haben, die vor lauter Zweifel äußerste Vorsicht an den Tag legt. Nur einmal scheint es ihn zu zerreißen, als er bei "As A Boy I Never Liked Buffoons" unter marschierenden Schellengeläut herzzerreißende Schreie ausstößt, gleich einer mittelalterlichen Folter, der er gerade zum Opfer zu fallen scheint.
Als gebürtiger Grieche ist Alexander sicherlich vom Ursprung der Tragödie und ihrem Zweck beeinflusst. Phobos und Eleios – Jammern und Schaudern – sollen sie beim Zuschauer bewirken, um sie gleichsam von diesen Emotionen zu befreien. Es wirkt fast so, als wolle "Chamber Works" just diese Tradition in ihrer reinsten Form wiederbeleben. Das zaghafte Wandeln in "Spleen Personality", durchbrochen von einigen Paukenschlägen und fatalen Bläsern, ist die perfekte Untermalung für das Individuum, das sich seiner selbst bewusst wird und sein Schicksal annehmen muss. Doch schon bei "Giants" bauen traurige Klavierklänge, die wie Tränen aus dem Lautsprecher kullern, eine gespenstische Atmosphäre auf, die durch beschwörende Choräle noch gesteigert wird.
In "Chamber Works" geschieht alles zwar im kleinen Kämmerlein, dort aber mit großem theatralischem Gestus. Am Ende der knapp 45 Minuten bleibt ein Gefühl von unendlicher Traurigkeit zurück, die aber keinesfalls unangenehm ausfällt. Vielmehr wird einem aus dem Trübsinn heraus bewusst, wie schön das Leben eigentlich sein kann.
Zunächst ähnlich, aber letztendlich doch ganz anders mutet "Nerissimo" an, das zweite Werk der Liaison Dangereuse zwischen dem italienischen Soundcreateur Teho Teardo und Einstürzende-Neubauten-Vorsteher sowie ehemaliger Bad Seed bei Nick Cave, Blixa Bargeld. Der Titel, zu deutsch etwa: das schwärzeste Schwarz, wirkt dabei wie die Antipode zum freundlich klingenden Vorgänger "Still Smiling". Doch Teho und Blixa lächeln immer noch, auch wenn sie es auf diesem Werk nur im Verborgenen machen.
Schon das Albumcover, eine Nachstellung des Gemäldes "Die Gesandten" von Hans Holbein dem Jüngeren aus dem Jahre 1533, spielt mit den gleichen optischen Raffinessen wie das bekannte Meisterwerk - allen voran der verzerrt dargestellte Totenkopf zu Füßen der Künstler besitzt etwas schelmisches, bricht das starre Bild auf.
Das Titelstück fungiert als Rahmen für Teardos Kammer- und Bargelds rhythmisierte Wortspiele. Zu Beginn in Deutsch, am Ende in Italienisch gesungen, wird das Schwarz zum universellen Begleiter in allen Lebenslagen und an allen Orten. Das ist natürlich ein Manierismus von Bargeld, der dieser Nicht-Farbe schon immer viel Raum in seinem Schaffen gab. Selbst als Gast bei Alfred Bioleks beliebter Kochsendung "Alfredissimo" kredenzte der Musiker und Schriftsteller dem Fernsehmoderator "Rissotto nero" (damals übrigens höchst intelligent von Biolek karikiert: er machte als Nachspeise einen Orangensalat!)
Von "Alfredissimo" zu "Nerissimo": 20 Jahre später braucht Blixa, braucht aber auch Teho, niemandem mehr etwas beweisen. Der Italiener weiß von der höchst eigenwilligen Strahlkraft von Blixas surrealen Wortwechsel und lässt seine sonst expressive Musik hier wie brodelndes Magma unter den Füßen des Neubauten-Frontmanns entlanggleiten, sodass der Hörer seine Aufmerksamkeit auf die kunstvoll gedrechselten, traumhaft anmutenden Geschichten richten kann, die sich wie in "Animelle" gerne um das Reisen drehen - auch wieder so ein Steckenperd vom Globetrotter Bargeld, der sich zeitweise in San Francisco und Peking häuslich niedergelassen hat.
Allerdings macht es uns die Post-Industrial-Ikone nicht immer ganz einfach. Besonders, wenn er wie bei "Ulgae" mit scheinbar absichtlich stark deutsch eingefärbtem Englisch ein verquastes, wie aus einem Drogenrausch entstandenes Märchen vorträgt, das von ebenfalls quälenden, leicht atonalen Sounds unterstreicht wird. Da sieht man die beiden, "Still Smiling", weil sie uns ein wenig foltern wollen. Und vielleicht auch, um ihren Ruf als Avantgardisten selbst zu relativieren.
Alles auf "Nerissimo" ist aus der bewussten Freude an der Kunst entstanden. Ihr zu begegnen, mit ihr zu spielen, aber auch die Erwartungen des Bildungsbürgertum zu brechen, ist vielleicht der ultimative Coup, der dem eigenwilligen, aber höchst inspirierten Duo nur gelingen konnte. So zeigen die teilweise ablehnenden Rezensionen zum zweiten Album lediglich, dass die Musikjournalisten allesamt in die Falle getapst sind und sich zu sehr von bedeutungsschwangeren Inhalten haben blenden lassen. Denn so superschwarz kann auch "Nerissimo" nicht sein, als dass nicht auch ein kleines Fünkchen Licht zu sehen ist.
Der Trick ist, sich dem anspruchsvollen Habitus des Albums zu entziehen, indem man den Blick von außen auf die Szenerie wirft und sich nicht zu sehr vom intelektuellem Ambiente gefangen nimmt. Ganz im Gegensatz zu Crestfallen, der sich mit jedem Ton auf "Chamber Works" der Emotionalität gewidmet hat und regelrecht drastisch dazu auffordert, mitzufühlen und auch mitzuleiden. In beiden Fällen jedenfalls sind großartige Werke von zeitloser Eleganz entstanden, und es scheint fast so, als würde beim Hören dieser Alben die Welt ein wenig zur Ruhe kommen.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 27.07.16 | KONTAKT | WEITER: B.ASHRA VS. PSYCHOTIKUM >
Webseiten
www.crestfallenarchive.com
www.tehoteardo.com
www.blixa-bargeld.com
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COVER © SPLEEN & DOOM LIBRARY (CRESTFALLEN), SPECULA RECORDS/ROUGH TRADE (TEHO TEARDO & BLIXA BARGELD)
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