ALTAR OF ERIS: "MICH INTERESSIERT ES NICHT, TEIL EINER LEMMING-GESELLSCHAFT ZU SEIN" - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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ALTAR OF ERIS: "MICH INTERESSIERT ES NICHT, TEIL EINER LEMMING-GESELLSCHAFT ZU SEIN"

Im Gespräch

Während die meisten Menschen sich durch die Corona-Pandemie in ihren Freiheiten drastisch eingeschränkt sehen, wirken Abstands- und Hygieneregeln vor allem für Travis Stanley wie ein Segen. Er bezeichnet sich selbst als Eremit und kommt mit dem Alleine sein sehr gut zurecht - schließlich hat er seit Kindesbeinen nichts anderes gemacht, als sich mit sich selbst zu beschäftigen. Zusammen mit Brandon Bannister und Nick Trimmer hat er die Gruppe Altar Of Eris ins Leben gerufen, die auf ihrer zweiten EP "Isolation" (die Kritik dazu findet ihr hier)der Dunkelheit sehr viel Raum geben und damit auch das Seelenleben der Musiker widerspiegeln, die versuchen, dieser komischen Zeit einen Sinn zu geben.

Bevor ich in Eure neue EP "Isolation" reingehört habe, erwartete ich eigentlich eine Grunge-Band, da ihr ja aus der Hochburg dieses Genres, aus Seattle, stammt. Existiert dieses Klischee überhaupt noch: Eine Rockband aus Seattle muss wie Nirvana oder Soundgarden klingen?
Brandon: Ich finde es sehr interessant, dass Seattle immer noch diesen Grunge-Ruf besitzt. Meiner Meinung nach gehört dieses Klischee aber der Vergangenheit an. Die lokale Musikszene hat sich seit den 90ern immer weiter entwickelt, und ich denke, dass die heutigen Bands, die aus Seattle und Umgebung stammen, unglaublich vielschichtig klingen. Also nein: Eine Rockband aus Seattle muss nicht zwangsläufig wie Nirvana oder Soundgarden klingen. Allerdings haben wir diesen Gruppen zu verdanken, dass die Stadt so bekannt ist.
Travis: Viele Grunge-Bands aus dieser Region haben meines Erachtens dieses abstrakte Gefühl des Alleinseins eingefangen, während sie zur gleichen Zeit in einer Stadt mit immergrünen Bäumen leben, was einem eher das sichere Gefühl von Geborgenheit geben sollte. Dieser Sound ist aber verschwunden und von einem enormen Spektrum an Menschen ersetzt, die jetzt Musik machen. Dabei besitzt der Nordwesten klasssischerweise eine großartige Punkszene, die den Grunge beeinflusst hat. Auch wenn das Genre in dieser Form nicht mehr existiert, gibt es jede Menge "Soundcloud rappers", die den Spirit weitertragen. Ich höre zwar nicht deren Musik, aber ich denke, dass sie die Fackel des Grunge immer noch hochhalten.

Habt ihr jemals Grunge gehört?
Brandon: Ich bin nie wirklich mit Grunge-Musik aufgewachsen. Mich hat eher Metal und Hardcore-Punk beeinflusst.
Travis: Als Grunge das große Ding wurde, war ich noch ein Kind, das gerade Punk-Rock entdeckte, Skateboard fahren lernte und Bands wie Sisters Of Mercy, The Cure und Echo And The Bunnymen hörte. In dieser Zeit habe ich mir auch die ersten drei Danzig-Alben angehört - in umgekehrter Reihenfolge. Diese haben mich zu Samhain geführt, welche wiederum mir den Weg zu den Misfits ebneten. Das war eine Zeit in meinem Leben, als all diese Subkulturen - Punk, Gothic, Skatertum, dilletantische Kunst - sich tief in mir verwurzelten.

Ihr seid eine junge, in Europa und Deutschland noch nicht so bekannte Band. Vielleicht erzählt ihr einfach mal ein bisschen über Euren Werdegang...

Brandon: Ich habe Travis in einem Tattoo-Laden in Olympia, Washington, getroffen. Wir haben uns vor allem über die Musik verbunden gefühlt und danach angefangen, gemeinsam an seinem Projekt Static Ghost zu arbeiten. Da wir schnell gemerkt haben, dass die Chemie zwischen uns stimmt, wurde noch mein Freund Nick Trimmer ins Boot geholt, der Bass spielt und uns bei den Produktionen unter die Arme greift. Wir fingen an, in unseren Heimstudios Musik zu machen. So hat der ganze Wahnsinn angefangen.
Travis: Wir arbeiten gut zusammen. Das ist schwer zu finden. Ursprünglich wollte ich schmutzigen, kaputten Industrial und Darkwave machen, der von Acid und EBM von DAF und Tzusing beeiflusst ist. Mit Brandon und anderen Mitstreitern zu arbeiten, hat mir die Möglichkeit eröffnet, die Sachverhalte aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Nick hört unsere Musik mit anderen Ohren, und darüber bin ich sehr dankbar.

Momentan seid ihr eine klassische DIY-Band ohne Plattenfirma. Wollt ihr Euch diese künstlerische Freiheit erhalten oder seit ihr auf der Suche nach einem Label?
Travis: Wir sind zu 100 Prozent eine DIY-Band und stolz darauf. Wenn wir uns dazu entschließen würden, mit einem Label zusammenzuarbeiten, dann nur mit einem, das Künstler und ihre Visionen respektiert. Ich habe sehr spezifische Themen, die ich in meinen Texten anspreche. Sie haben für mich auch eine karthatische Wirkung. Könnte ich nicht über die alles zersetzende Dunkelheit in mir schreiben, würde ich dieses Projekt auch nicht mehr weiterführen. Wir haben kein Interesse, gedankenlose Pop zu veröffentlichen (davon gibt es genug) oder charakterlose Fabrikmusik zu produzieren, die ohne echte Emotionen oder einer tieferen Wahrheit ist. Ich denke, die Menschen merken es, wenn man etwas nicht mit ehrlicher Absicht macht. Vielleicht sind wir zu idealistisch und werden nie ein Label finden.

Warum habt ihr Euch dem Post-Punk als musikalisches Ausdrucksmittel verschrieben?

Travis: Wir haben Elemente aus Darkwave, Industrial, Post-Punk und Death Rock in unserem Sound. Das liegt natürlich an meiner großen Liebe für diese Stile, in die ich mich vertieft habe. Selbst als ich in Hardcore- und Metalbands gesungen habe, trug ich für gewöhnlich ein T-Shirt von Bauhaus oder Sisters Of Mercy. Ich habe mich zu dieser Stilgemisch entschlossen, weil ich es einfach leid war, traditionelle Rock-Musik mit vier oder funf anderen Menschen zu spielen. Auch habe ich über die Zeit hinweg mich getraut, Instrumente selbst zu spielen oder zu programmieren und einfach mehr zu machen, als nur in ein Mikro zu schreien.
Brandon: Post-Punk ist aus einer Vielzahl von Gründen zu meinem Ausdrucksmittel geworden. Der Begriff ist unglaublich vielschichtig, was mir die Möglichkeit gibt, mich auf verschiedenste Weisen darszustellen und gleichzeitig dem Genre gerecht zu werden. Die Szene, so habe ich die Erfahrung gemacht, akzeptiert zudem am ehesten unkonventionelle Klänge. Das erlaubt mir, leichter in einen kreativen Fluss zu gelangen. Nicht zuletzt habe ich die Möglichkeit, meine Wurzeln als Hardcore-Punkter mit dieser Musik zu verknüpfen, wobei ich mich nun in dunklere Gefilde begebe, die melodischer sind und mir mehr abverlangen, als nur den ganzen Tag irgendwelche Power-Akkorde zu spielen.

Nun kommt Eure EP "Isolation" gerade in eine Zeit heraus, in der die Welt mit dem Corona-Virus zu kämpfen und in fast jedem Land ein Lockdown stattgefunden hat. Ziemlich verrückt, oder?
Brandon: Gewiss ist das momentan eine sehr intensive Zeit, die wir erleben. Für jeden auf dem Erdball ist es verrückt, mit ähnlichen Ausgangssperren konfrontiert zu sein. Aber es herrscht auch eine Solidarität, denn es wird einem bewusst, dass Millionen anderer Menschen momentan das gleiche durchmachen wie wir auch. Dennoch ist der Virus nicht das einzige Problem in umseren Land: Sehr viele Amerikaner, mich eingeschlossen, haben momentan keine Arbeit, viele sind vom Virus direkt betroffen oder erholen sich gerade von ihm. Und in dieser Situation finden Proteste und Straßenkämpfe in fast jeder Hauptstadt statt aufgrund extremer Polizeibrutalität. Von daher ist es für uns hier eine besonders ungewöhnliche Zeit.

Zudem der Weg der Vereinigten Staaten, das Virus zu bekämpfen, weltweit heftig kritisiert worden ist. Fühlt ihr Euch überhaupt noch sicher und von der Regierung ausreichend geschützt?
Brandon: Als jemand, der beruflich mit der amerikanischen Politik zu tun hat, habe ich eine Menge an Gedanken darüber. Aber ich will es kurz machen: Die Art und Weise, wie die Trump-Regierung das Virus händelt, ist erschreckend. Millionen Dollars wurden an Unternehmen verschwendet, während die Bürger einen einmaligen Scheck über 1.200 Dollar erhalten haben und sich damit zufrieden geben mussten. Viele sind nicht mehr in der Lage, die Miete zu bezahlen, Essen auf den Tisch zu stellen, oder einen Arzt wegen der Kosten aufzusuchen. Die Trump-Regierung hat es zudem verpasst, Abstandsregeln einzuführen, als das Virus hierzulande ausgebrochen ist. Tausende Leben hätten so gerettet werden können. Aber sie haben all dies nicht ernst genommen und nun sind viele Menschen wegen dieses Verrückten gestorben. Sicherlich glaube ich, dass ein Großteil der Bürger sich nicht von der Regierung ausreichend geschützt fühlt. Zudem schickt Trump jetzt auch noch die Nationalgarde durchs Land, um die Proteste und Demonstrationen für einen Wechsel platt zu machen - ebenfalls sehr erschreckend. Unser Land wird, glaube ich, solange in Scherben liegen, wie dieser Clown im Amt bleibt.

Die Isolation, über die ihr auf Eurer EP singt, hat natürlich nichts mit dem Virus zu tun. Vielmehr scheint mir Eure Musik der Soundtrack für ein selbst auferlegtes Leben in absoluter Einsamkeit...

Travis: Der Titel hat einfach als überspannender Begriff für die ganzen Themen, die in den Songs behandelt werden, gepasst. Bis zu einem gewissen Grad durchleuchten wir verschiedene Stufen der Einsamkeit, in der man sich in dunklen Grübeleien über unsere Realität verliert. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen, die allein in Quarantäne leben müssen, das nachempfinden können. Wir versuchen eben Musik zu machen, die unseren Gedanken entspricht: Ich bin irgendwo im Nirgendwo aufgewachsen, in einem ländlichen Vorort von Tacoma, Washington. Als Kind, Teenager und auch als Erwachsener war ich immer allein. Als ich angefangen habe, diese Musik für mich zu entdecken, war es überhaupt nicht cool, Gruppen wie Bauhaus oder The Cure zu hören. Sie zählten einfach nicht mehr zu den angesagten "Goth"-Bands. Wenn ich also nicht gegen irgendwelche rassistischen Hinterwäldler gekämpft haben, legte ich mich mit denen an, die Nu-Metal gehört haben oder mit irgendwelchen Schnöseln, die nichts besseres zu tun hatten, als sich mit Andersartigen anzulegen. Ich habe also mit meinen Sachen nirgendwo reingepasst und wurde das, was man Einzelgänger nennt. Alles, was jemals cool oder hip gewesen ist, hat mich nie erreicht - eben wie ein richtiger Außenseiter. Es brigt aber auch jede Menge persönliche und künstlerische Freiheit mit sich, wenn man gesellschaftliche Konstrukte hinter sich lässt und seinen eigenen Weg beschreitet. Man kann nur sich selbst treu sein und in dieser kalten Welt überleben, wenn man opferbereit ist und hart arbeitet.

Seid ihr also auch diese Art von Menschen, die einfach die Welt außen vorlassen können und das Leben eines Einsiedlers leben würden?

Travis: ich bin definitiv ein Einsiedler und auch nicht wirklich sozial. Ich bin zwar freundlich, aber nicht gerade eine herzliche Person. Tagsüber gehe ich arbeiten und tätowiere Menschen, und wenn ich nach Hause komme, mache ich Musik, male, schaue alte Horror-Filme - mir habe es die italienischen Gruselstreifen angetan - und ich lese sehr viel. Ich bin immer mit mir selbst beschäftigt. Mir ist nie langweilig, weil ich ständig etwas erschaffe oder etwas lerne. Oder wie ich immer zu sagen pflege: Ich halte mich daran, am Leben zu bleiben. Mich interessiert es nicht, Teil einer Lemming-Gesellschaft zu sein. Meine Einkäufe mache ich spät nachts und versuche, großen Menschenmengen, so gut es geht, aus dem Weg zu gehen. Wenn man heutzutage sagt, dass Händeschütteln der Vergangenheit angehört, fühle ich mich sehr erleichtert.

Ein kleines Gedankenspiel: Welches Album und welches Buch würdet ihr mitnehmen, wenn ihr alleine Leben müsstet?

Travis: Das erste Album, das mir in den Sinn kommt, ist Iggy Pops "The Idiot". Das kann ich immer und immer wieder anhören, ohne dass es mich langweilt. Es ist einfach zeitlos, weil es sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Zukunft stattfindet und stets relevant für die Gegenwart ist. Als Buch würde ich "Der Mythos des Sisyphos" von Albert Camus aussuchen. Dieses Buch hat mir geholfen, ungezwungener mit dem Leben umzugehen und etwas zu finden, das ich als ungefähres Glück bezeichen kann, während ich mit einer Realität klarkommen muss, die in meinen Augen wirklich absurd ist und meiner Meinung nach keine wirkliche Bedeutung hat.

Zwar verschwindet die Publikationsform des Albums immer mehr, aber können wir trotzdem damit rechnen?
Travis: Ich denke, wir werden ein oder zwei weitere EPs während des Lockdwons machen. EPs sind tatsächlich besser für uns zu realisieren, weil wir innerhalb weniger Monate sechs Songs fertig haben, anstatt über eine längere Zeit 20 Songs zu schreiben, um davon acht wiederum rauszuwerfen und nur zwölf auf ein Album zu pressen. Wir möchten den Menschen etwas in dieser Situation zum Hören geben. Für uns bietet es die Möglichkeit, immer wieder neu in unser Projekt einzutauchen, indem wir stets frische Musik produzieren. Es gibt beispielsweise eine wunderbare Zwei-Mann-Band aus Portland, Oregon. Sie heißen Xibling und haben mindestens fünf oder sechs EPs alleine während der Quarantäne aufgenommen. Und die Musik ist wunderschön! Viele Bands wie She Past Away und Soft Moon haben auch gerade tolle Remix-Alben veröffentlicht. Falls also ein paar gleichgesinnte kreative Personen unser Zeug remixen wollen, lasst es uns wissen.

|| INTERVIEW: DANIEL DRESSLER | DATUM:14.06.2020 | KONTAKT | WEITER: FINN RONSDORF VS. ORLANDO WEEKS>

Webseite:
altaroferis.bandcamp.com


Fotos © Dylan Miller

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