5/22: CLICHEE, POINT NO POINT, THE SEA AT MIDNIGHT, RONNI LE TEKRØ, RICHARD JAMES SIMPSON, HEISSE PROJEKTILE: IM HALBEN DUTZEND GEILER - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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5/22: CLICHEE, POINT NO POINT, THE SEA AT MIDNIGHT, RONNI LE TEKRØ, RICHARD JAMES SIMPSON, HEISSE PROJEKTILE: IM HALBEN DUTZEND GEILER

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2022
Dass sich Deborah und Johanna tatsächlich den Namen Clichée verpasst haben, ist sicherlich auch als schelmisches Augenzwinkern zu verstehen. Denn tatsächlich haben sich die beiden Musikerinnen einem wahrhaftig klischeebeladenen Post-Punk verschrieben, den es in dieser Art eigentlich gar nicht  gibt. Reduziert auf Gitarre und Schlagzeug, redundante Melodielinien mit einer unglaublichen Weite sowie seltsam distanziertem Frauengesang, stehen sie stilistisch überdeutlich in der Nähe von Siouxsie & The Banshees. Tatsächlich wird das Klischee der unnahbaren Gothic-Grazien aus den Anfangstagen der Schwarzen Szene bis zum letzten Fitzel ausgekostet. Selbst bei der Produktion der Songs hat man sich ganz authentisch auf den körnigen Charme eines 8-Spur-Kasettengeräts verlassen und ihre selbstbetitelte Debüt-EP auch auf Bänder vertrieben. Diese sind bereits ausverkauft, es gibt das Werk also nur noch digital. Was widerum für die Qualität von Clichée spricht. In der Tat haben wir es hier mit fünf ganz fein arrangierte Songs zu tun, die allesamt so klingen, als würde man sein Leben in einem kaltgrauen Betonbunker verbringen. Hier scheint kaum noch Hoffnung aufzukeimen. Immerhin kann man auf diese Tristesse ganz besonders gut tanzen. Allen voran "The Last Word" ist mit seinem hypnotischen Beat ein heißer Kandidat für die bundesweiten Diskotheken. In Berlin jedenfalls sind sie bereits dabei, ihre Fanbase zu erweitern, und es sollte doch mit dem Antichrist zugehen, wenn die beiden Frauen ihren anschmiegsamen Old-School-Dark-Wave nicht gewinnbrigend unter die Leute verfrachten würden.

Wir bleiben weblich, wir bleiben in Berlin. Denn Jana Sotzko hat mit ihrem Projekt Point No Point ebenfalls für einiges Aufsehen im musikalischen Untergrund der Hauptstadt gesorgt. Bereits das Debut "Drift" von 2019 war im Begriff, den Pop zu dekonstruieren, um so Platz für die eigenen Gefühle der Unsicherheit und Ziellosigkeit zu schaffen. Nun zeigt sich "Bad Vibes In Mushroom Forest" von einer nicht weniger künstlerisch anspruchsvollen, aber dennoch klareren Seite. In den Liedern finden sich Versatzstücke aus verschiedensten Ecken und Enden der jüngeren bis fortgeschritteneren Popgeschichte, die sich zu einem wundersamen Konglomerat vereinigen. Mysteriös bis nebulös wirken Stücke wie das Instrumental "Schlechte Vibes im Pilzwald" und das surrealistische "Museum der Angst", die den Hörer teilweise ratlos und auch etwas unbehaglich zurücklassen. Dem gegenüber steht beispielsweise "Are You OK", das noch die größten Zugeständnisse an die Hörerschaft macht. Auch "The Sky Was Orange" ist trotz seiner offensichtlichen Abgespacedheit und dem latenten Krautrock-Gebaren immer noch ein Song, der sich relativ flockig-locker hören lässt. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass gerade diese beiden Songs als gesonderte Singleveröffentlichungen auf den Markt gelandet sind. Hier ist Point No Point tatsächlich noch am ehesten zu verstehen. Spannender, weil eben auch anspruchsvoller und entgegen der Hörgewohnheiten arbeitend, sind aber die anderen Stücke wie "The Unknown Ingredient" oder "Les Nouvelles Aventures De John Lapin", die das ganze Improvisationstalent der Musikerin darlegen. Nicht immer einfach zu verdauende, aber durchweg aufreizend konzipierte Klanglandschaften.

Wenn Vince Grant Musik macht, geschieht etwas ganz besonderes. Zu gleichen Teilen fühlt man sich bei seinen Songs getröstet und auch am Boden zerstört. Denn unter dem alias The Sea At Midnight bringt er seine ganze Biografie aufs Tablett. Bereits sein selbstbetiteltes Debütalbum war eine seelische Offenbarung, ein Bloßlegen seiner inneren Befindlichkeiten. Wie eine Karthasis muss dieses Album auf den Mann gewirkt haben, der in seiner Vergangenheit mit Drogen und Depressionen zu kämpfen hatte. Auch bei UNTER.TON herrschte ungeteilte Einigkeit darüber, dass The Sea At Midnight viel mehr war als ein weiteres Gothic-Projekt unter vielen. Die EP "Oceans" scheint sich aber von den dunklen Gedanken des Erstlings etwas befreit zu haben. Die Songs besitzen nachwievor diesen unverwechselbaren Wave-Charme - allen voran ist immer noch The Cure als Bezugspunkt zu nennen. Die vier Stücke bestechen durch einen helleren, positiveren Sound, der aber nicht minder gedankenschwer daherkommt. Weiterhin bleibt Vince ein großer Grübler vor dem Herrn, der in seiner Musik seine Überlegungen zur Lage der Gesellschaft und seiner seelischen Verfassung ungefiltert der Welt mitteilt und damit dem Hörer stark verbunden ist. "Afraid Of The Waves" ist ein gutes Beispiel dafür, wie Grant seine Gedanken und Dämonen in den Griff bekommen will. Weil er aber eben wirklich über sich singt, entsteht eine unglaubliche Ehrlichkeit und Authentizität, die nicht nur den Songs gut zu Gesicht steht, sondern The Sea At Midnight zu einem großartigen Act avancieren lässt. "Oceans" enthält vier Songs für die Ewigkeit.

Eine gefühlte Ewigkeit ist auch Ronni Le Tekrø im Musikzirkus unterwegs. Als Mitbegründer deer legendären Metal-Band TNT konnte sich der schwedische Gitarrist schnell einen Namen machen. Sein kraftvolles Saitenspiel hat ihn zu einem der einflussreichsten Musiker im Metal-Genre werden lassen. Sein unbestrittenes Können stellt er auch bei seinem neune Album "Bigfoot TV" unter Beweis. Ohne Umwege steigt das Werk mit dem in höhere Sphären durchschießenden "Life Long Island" direkt in das Klangverständnis des Musikers, der mit seinen 59 Jahren natürlich auch jede Menge Routine besitzt, diese aber nie so richtig durchscheinen lässt - und das ist positiv gemeint. Denn wo andere auf Nummer Sicher gehen und ihr Programm abspielen, bleibt Ronni spannend und seine Songs spiegeln die Lust und die Neugier des Musikers wieder. So bringt er in dem plakativen "Moving Like A Cat" einen ebenso umherschleichenden, mit Anleihen an den R'n'B der 2000er gespickten Sound, der sich im Refrain zu einem klassischen Rocksong aufplustert, während "The Black Rose" natürlich jeden Schwarzkittel ansprechen wird - nicht nur vom Titel her. Auch wenn Le Tekrøs Organ immer leicht angeschmirgelt wirkt, ist ein Duktus und eine Intonation wahrnehmbar, die einen an David Bowie erinnert. Vor allem "Demons" lässt diese Assoziationen unweigerlich zu. "Bigfoot TV" ist eine Inventur seines Lebens und handelt auch von der Vermittlung seiner eigenen Werte. Doch viel mehr repräsentiert die Scheibe den künstlerischen Fortschritt eines Mannes, der nicht in seiner Komfortzone verharren will und dadurch auch im gesetzteren Alter immer noch frisch wirkt.

Wenn ein Album unter Synthiegewaber mit dem Dialog "I'm scared" - "Don't be" beginnt, kann man sicher sein, dass es eben darum geht: Angst. Diese manifestiert sich im Opener "Evaporating People" von "Sugar The Pill", dem dritten Album von Richard James Simpson, vor allem in seiner Musik, die sich albtraumhaft sicher durch einen dunkel-psychedelischen Soundirrgarten bewegt. Beschwört beispielsweise "Starry Hope" und "We're In The Wolf's Mouth" mit seinem beängstigenden Gniedeleien den Geist früher Post-Punk-Nummern, findet in "Consensual Therapy" eine Abstraktion ihres eigenen Sounds statt, der sich in "Time, The River" zu einer beklemmenden Meditation ausweitet. Den Hang zum Epxeriment versteckt Simpson indes nicht. Besonders die knappen Intermezzi wie "Whitney Says" oder "Sleep" wirken wie aus einem ganz anderen Kosmos stammend. Ebenfalls mit einem großen Überraschungseffekt ausgestattet ist "Take It Back". Denn hier verzichtet Simpson auf jedwedes musikalisches Gedönse und gibt den zerbrechlich wirkenden Barden, der, lediglich von einem Klavier begleitet,eine wunderbare Ballade zum Besten gibt - nur, um im nachfolgenden "John Can't Hero" in einen surreales Klanggebäude zu errichten. Am Ende versöhnt "Love Becomes A Stranger" den Hörer durch einen dunkelvioletten Wohlfühlsound, der in seiner Filigranität an die intelligenten Popsongs eines David Bowie erinnern. Oder wie es der amerikanische Punker Geza X mal so treffend beschrieben hat: "Der Zauberer von Oz trifft auf Eno". Das beschreibt exakt die Magie von Richard James Simpson, der auf "Sugar The Pill" seinem eigenen Klangverständnis wieder ein bisschen mehr Raum gibt.

Holter die polter schießt die Punk-Combo Heisse Projektile selbige dem Hörer ins Gesicht. Die Waffen bilden raffinierte Gitarren-Sounds, die zwar Drei-Akkord-Charme versprühen, aber beim zweiten Hinhören wesentlich tiefer gehen, sowie explizite Texte, die den Punk-Ur-Spruch "No Future" so lebendig wirken lassen wie seit langem nicht mehr. Das Album "Ultima Ratio" hat das Trio aus Lahr im Schwarzwald bereits 2018 eingespielt. Doch wie es das Schicksal, respektive Corona, so wollte, ist diese feine Scheibe ausgemachten Wahnsinns erst jetzt zu hören. Aber besser spät als nie, beziehungsweise: Der Veröffentlichungstag kann gar nicht besser gewählt sein, denn Heisse Projektile liefern - sicherlich ungewollt - einen authentischen Soundtrack für den momentanen Zustand der Welt, die zwischen Pandemie, Rechtsruck, Umweltzerstörung und einem drohenden dritten Weltkrieg, der, sollte er ausbrechen, uns in die Steinzeit zurückbomben wird, wieder einmal kurz vor dem Abgrund steht. Die aggressive bis depressive Stimmung der Platte kleidet den Zeitgeist vortrefflich. Besonders am Ende von "Ultima Ratio" fällt die Wut, wie sie auch textlich in "Glückspilz" oder "Die Uhr tickt" noch ungefiltert herausströmt, in sich zusammen und weicht einer verkaterten, aber dafür umso intensiveren Stimmung. "Eifersehnsucht" und "Normale Menschen" lassen über sieben, respektive acht Minuten größte Hoffnungslosigkeit walten. Letztgenannter Song fasst den ganzen Irrsinn unserer konsumorientierten Welt in einen Satz: "Ich glaub' ich bin kaputt, ich funktionier' nicht mehr". "Ultima Ratio" dagegen funktioniert bestens - als gedanklich radikalen Ausstieg aus der Gegenwart.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 11.10.2022 | KONTAKT | WEITER: CHRIS IMLER "OPERATION SCHÖNHEIT">

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