THROBBING GRISTLE "THE TASTE OF TG: A BEGINNER'S GUIDE TO THE MUSIC OF THROBBING GRISTLE" VS. ALIEN SEX FIEND "FIENDOLOGY 1982-2017 AD AND BEYOND": DIE GEDANKEN SIND FREI - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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THROBBING GRISTLE "THE TASTE OF TG: A BEGINNER'S GUIDE TO THE MUSIC OF THROBBING GRISTLE" VS. ALIEN SEX FIEND "FIENDOLOGY 1982-2017 AD AND BEYOND": DIE GEDANKEN SIND FREI

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Heutzutage kranken die Begriffe Gothic und Industrial an der Verwässerung ihrer selbst auferlegten Definition. So manche "Gruftie"-Kombo ist textlich nicht weit von Pur und Konsorten entfernt; lediglich ihr exzessiver Gebrauch wehleidiger Moll-Tonarten rechtfertigt noch das Etikett "düster". Und sprechen Szene-Novizen von Industrial, denken sie eher an das unsägliche Computergewummer nebst verzerrtem Gesang und überwiegend fäkalsprachlichen Auswüchsen. Doch dem ist nicht so.

Gerade Industrial war in seiner Urform kein kartoffelstampfiges Amusements, sondern der bewusste Weg in die auditive Unerträglichkeit. Songs und Themen wurden ineinander verschränkt, griffen sich gegenseitig an, brachen homogene Strukturen auf. Provozierend hielt man sich an den extremen Rändern auf - gesellschaftlich wie politisch. Songs über Massenmörder, pornographische Inhalte und der Einsatz faschistischer Symbole hat nicht selten die Sittenwächter auf den Plan gerufen. Throbbing Gristle zählt zu der Speerspitze dieser Bewegung und gilt als Dreh- und Angelpunkt einer radikalen neun Bewegung in den Endsiebzigern des letzten Jahrhunderts. Schon ihr Name ist eine unmissverständliche Anspielung auf ein erigiertes Glied ("Pochender Knorpel").

Ihr ins Leben gerufenes Industrial Label, der wir die Genrebezeichnung zu verdanken haben, hat vor genau 40 Jahren mit der Veröffentlichung des "Second Annual Report" Geschichte geschrieben. Die Platte gilt als das erste Industrial-Album im klassischen Sinne und räumt der Künstlervereinigung von Genesis Breyer P-Orridge, Peter Christopherson, Chris Carter und Cosey Fanni Tutti einen Platz in die Annalen der Pophistorie ein. Mit den wie zufällig entstandenen Soundwänden kreierten sie Nummern, die an in schwefelgelber Farbe eingetauchte Schützengräben nach einem nuklearen Angriff erinnerten. "Second Annual Report" bedeutet Krieg. Und zwar gegen herkömmliche Songstrukturen. Damit waren sie noch radikaler als Punk, dessen Bezugspunkt immer der klassische Rock'n'Roll gewesen ist.

Im Zuge dieses Jubiläums veröffentlicht das Mute-Label in den kommenden Jahren den gesamten Katalog von TG wieder. Den Anfang machen natürlich "Second Annual Report", ferner "20 Jazz Funk Greats" und "The Taste Of TG: A Beginner's Guido To The Music Of Throbbing Gristle".

Letztgenannte Veröffentlichung sei hier ausführlich besprochen, da es sich tatsächlich als perfekten Einstieg für die reichlich verschrobene Welt dieser britischen Klangguerilla eignet. Um die Hörer nicht gleich komplett zu verbrämen, wechseln sich lärmende Soundklumpen mit relativ leicht verdaulichen, spröden Electro-Nummern ab.

Wohlwissend, dass auf jedes extreme Klangexperiment ein Moment der Ruhe eintritt, lassen sich beispielsweise "We Hate You (Little Girls)", in dem fast  zwei Minuten lang unter dumpfen Klängen nur geschrien wird, oder die wahrlich schauderhafte Live-Version von "Cabaret Voltaire" aushalten. Dafür geben pluckerige Synthesizer-Beats in Verbindung mit Glockenspielerei und einem monotonen Sprechgesang in "Distant Dreams - Part Two" schon Anhaltspunkte für den Minimal Wave eines John Foxx preis.

Ihre größten Wohlklang-Zugeständnisse machen Trobbing Gristle aber bei "Hot On The Heels Of Love", einer Dark-Room-Disco-Nummer par excéllence. In ihrer redundanten und gleichzeitig trancigen Ausarbeitung steht dieses Stück gar nicht mal so weit von Donna Summers "I Feel Love" entfernt. Und "Almost A Kiss" ist die vielleicht traurigste Ballade, die je eingesungen wurde. Selbst Dunkelromantiker wie Nick Cave & The Bad Seeds kommen nicht an diesen Schmerz heran, der sich in den, latent knapp an den Tönen vorbeischrammenden, Wehklagen und der schummrigen Leonard-Cohen-Soundalike-Komposition aufbaut. So herrlich kaputt klingen Liebeslieder selten.

Bei aller Streitbarkeit, besonders im Bezug auf ihren recht laxen Umgang mit nationalsozialistischen Motiven, die der Industrial-Szene schnell den Ruf eingebracht hat, faschistoid zu sein (und durch politisch uneindeutige Künstler wie Boyd Rice in ihrer Ambivalenz nur bestärkt wird), kann man das Wirken dieser Band auf nachfolgende Generationen, die sich mit unangepasster elektronischen Musik befassen, nicht hoch genug bewerten.

Die Auflösung von Throbbing Gristle Anfang der 1980er bedeutet auch eine Neuausrichtung der Mitglieder. Tutti und Carter, mittlerweile ein Paar, haben als Chris & Cosey in künstlerisch anspruchsvollen Kreisen mit ihren elektronischen Kleinoden Erfolg. Genesis Breyer P-Orridge hingegen lebt weiter ein Leben der Extreme und transformiert sich immer mehr zum reinen Kunstprodukt. P-Orridge zeigt sich mittlerweile als androgynes Wesen mit Brustimplantaten in der Öffentlichkeit. Er und seine 2007 verstorbene Frau Lady Jaye haben damit traditionelle Geschlechterrollen in Frage stellen wollen.

In ähnlicher, aber weitaus spielerischerer Art, konnten zwei andere Vermählte einen Platz der kultigsten Kunstschaffenden einnehmen. Es handelt sich um Nikolas und Christine Wade, besser bekannt als Nik Fiend und Mrs. Fiend. Ihr gesamtkünstlerischer Ansatz, den sie als Alien Sex Fiend ausleben, läßt das Duo, das zeitweilig von Gastmusikern unterstützt wird, schnell über allen Dingen schweben.

Der unbedarfte Umgang mit den verschiedensten Genres, von Punk bis Ambient und von Post-Industrial bis Techno, hat es der Fangemeinde nicht immer leicht gemacht. Doch Alien Sex Fiend sind nicht gegründet worden, um sich anzupassen, sondern ihrer eigenen Vorstellung von Kunst in universeller Verschränkung nachzugehen und selbst bei der Veröffentlichung ihrer Musik unkonventionelle Wege zu gehen (man erinnere sich nur an die Single "E.S.T. - Trip To The Moon", das als Elf-Zoll-Single erschienen ist).

Ihr Erfolg misst sich nicht an den Abverkaufszahlen ihrer Platten, aber am Faktum, dass sie mittlerweile ihre Kunst völlig autark verwalten - und das schon seit 35 Jahren. Darüber hinaus zählen viele Größen wie Alice Cooper oder Marilyn Manson Alien Sex Fiend zu ihren wichtigsten Einflüssen und Inspirationsquellen.

Nik Fiend und sein Holde haben es verstanden, Musik und bildende Kunst zu vereinen. Daher verwundert es auch nicht, dass die drei CD umfassende "Fiendology" auch in Cover- und Bookletgestaltung eigene Wege beschreitet. Der vom Punk beeinflusste Collagen-Stil, die immer noch gerne genutzte, technisch unperfekte Schreibmaschinenschrift, die Schwarz-Weiß-Ästhetik, die von neonleuchtenden Farbtupfern durchbrochen wird: Kaum eine andere Band aus dieser Zeit hat einen so allumfassend klaren gesamtkünstlerischen Ansatz verfolgt, der sich geschickt zwischen den Stühlen der damals aufkeimenden Subkulturen befindet.

Allerdings sieht Mrs. Fiend darin auch der Grund ihres vergleichsweise eher bescheidenen Erfolg, wie im Booklet nachzulesen ist. "Ich glaube, wir besitzen zu viel Humor für einige Menschen. Oder sie befinden sich eher auf der poetischen, melodischen und romantischen Seite von Gothic. Und wir sind zu punkig oder spacig oder zu industrial nach ihrem Geschmack".

Ein nicht unbedeutender Hinweis, der offenbart, dass selbst die frühesten Schwarzkittelträger ihre Ressentiments pflegten gegen alles, was im Ansatz Spaß oder Nonkonformismus bedeuten könnte. Schließlich sind Stücke wie "Now I'm Feeling Zombified", "Attack" oder "Dead And Re-Buried" von einer grotesken B-Horror-Movie-Spaßigkeit durchzogen, die manchen Clubgänger damals wohl sauer aufgestoßen ist. Gar nicht auszumalen, wie frickelige Nummern wie "Get Into It" oder die fast schon als Psy-Trance-Nummern durchgehenden "Comatose" und "Instant Karma-Sutra" das Weltbild all derer zum Einsturz gebracht haben muss, die die Eheleute Wade zwanghaft in die Gothic-Schublade zu pressen versuchen.

Doch ganz davon abgesehen, ob ASF mit ihren Kompositionen irgendwelchen Gruft-Gralshütern auf die Pikes getreten ist, muss konstatiert werden, dass die beiden immer einen hohen Wiedererkennungswert besitzen, trotz oder geraden wegen ihres kruden Stilmischmaschs. Bis zum jüngsten Tag. So sind auf diesem Kompendium mit "Carcass" und "Invisible" zwei neue Stücke vom kommenden Album "Posessed" zu hören, die das energetische Level ihrer früheren Veröffentlichungen ohne Probleme halten - genauso wie Ihre Subversität.

Das "...And Beyond" am Ende des Titels der Zusammenstellung gibt also Anlass zur Freude. ASF sind immer noch unter den Lebenden (auch wenn sie manchmal nicht so aussehen) und werden in Zukunft weiterhin mit ihrer Kunst verstören und die Hörer mit mehr Frage- als Ausrufezeichen zurücklassen.

Aber wer hat schon gesagt, dass Kunst immer verstanden werden muss? Muss sie nicht, sondern einfach nur etwas in einem zum Schwingen bringen. Bei Throbbing Gristle und Alien Sex Fiend ist es vor allem die Ahnung einer freigeistigen Weltsicht, die sich zwar nicht an der Oberfläche durchsetzt, aber dafür langsam und dauerhaft ihre Spuren darunter hinterlässt.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 20.11.17 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 10/17 >

Webseite:
www.throbbing-gristle.com
www.asf-13thmoon.demon.co.uk

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COVER © MUTE/ROUGH TRADE (THROBBING GRISTLE), CHERRY RED RECRODS/H'ART (ALIEN SEX FIEND)

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