"MUSIC FOR NEW ROMATICS" - DIE BLITZ KIDS UND IHRE VERWANDTEN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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"MUSIC FOR NEW ROMATICS" - DIE BLITZ KIDS UND IHRE VERWANDTEN

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Die Essenz von Sub- und Jugendkulturen ist die Auflehnung gegen das Establishment. Der Rock'n'Roll hat den spießig-züchtigen "american way of live" gehörig ins Wanken gebracht, die Hippies lehnten sich gegen die kriegsversessenen alten Männer auf und Punk zerstörte mit einem Drei-Akkord-Vorschlaghammer die letzten Hoffnungen einer strahlenden Zukunft. Doch nach dieser kurzen "No Future"-Hysterie änderten sich die Parameter.

Kalter Krieg, wirtschaftliche Unsicherheit und fortschreitende Umweltzerstörung ließen tatsächlich keinen Platz mehr für herzerwärmende Gedanken an das Morgen. Also versuchten einige, das Heute so angenehm und kommod wie nur möglich zu gestalen und bildeten damit den krassen Gegenentwurf zu den alles negierenden Punks. Anstatt abgerissenem Gossenlook wurde nun Wert auf modische Kleidung gelegt, gerne garniert mit viel Make-Up - und zwar bei beiderlei Geschlecht, um biologische Grenzen optisch aufzuweichen.

Epizentrum dieser neuen, rein nihilistisch-hedonistischen Jugendbewegung Ende der 1970er war eine kleine Location im englischen Holborn, namentlich The Blitz Club. Der Türsteher dort, ein gewisser Steve John Harrington, ließ nur jene rein, die modisch gefestigt und gut beleumundet waren, sodass sie in das visuelle Konzept des Clubs passten. Ein subversives "Studio 54" entstand, das innerhalb weniger Wochen nicht nur einen Ruf wie Donnerhall besaß, sondern auch Keimzelle einer neuen Musikrichtung werden sollte: New Romantic.

Steven John Harrington, der Türsteher, hat sich irgendwann in Steve Strange umbenannt und lieferte nur kurze Zeit später mit seinem Musikprojekt Visage und dem selbst betitelten Debüt eine Blaupause für nachfolgende New-Romantic-Combos ab. Doch die über Gebühr gestylten Mädchen und Jungs (übrigens nicht nur im Blitz Club, sondern auf der ganzen britischen Insel verteilt) haben zunächst zu anderen Stücken getanzt, der Sound dieser Generation entwickelte sich ja gerade erst. An diesem Punkt setzt der feine Sampler "Music For New Romantics" an: Er bleibt nicht an der Oberfläche kleben, sondern geht auf Spurensuche nach den Anfängen und Inspirationsquellen, um diese in Bezug zu den bekannten Gassenhauern zu setzen.

So bildet die erste CD ein aussagekräftiges Stimmungsbild einer musikalischen Neuorientierung, die natürlich mit zwei großen Namen verknüpft ist: David Bowie und Bryan Ferry. Ersterer ist beim Klassiker "All The Young Dudes" von Mott & The Hoople als Songschreiber vertreten, Letzterer formte mit Brian Eno die Band Roxy Music, deren Einfluss auf die zukünftigen New Romantics wohl am größten war. "Do The Strand" von 1973 war dabei seiner Zeit deutlich voraus. Gruppen wie Ultravox! (damals noch mit John Foxx am Mikro, der hier natürlich auch mit seinem unverwüstlichen Solo-Hit "Underpass" zu hören ist) haben ohne Zweifel viel von dieser Band abgeschaut.

Der nächste Silberling geht in medias res, präsentiert aber die etwas dunkleren Auswüchse dieser Jugendkultur. Telex, Japan, Nightmares In Wax, Siouxsie And The Banshees und Gary Numans Band Tubeway Army fischen in den trüben Gewässern, weswegen heutzutage in jeder Dunkeldisco neben den klassischen Gothic-Heroen auch immer wieder New-Romantic-Stücke zu hören sind. Die Übergänge sind, wie man auf dieser CD hört, fließend.

Ebenso sind die Bands der Stunde vom Funk, Punk oder dekadenten Disco-Music nicht weit entfernt. Denn New Romantics sahen nicht nur schick aus, sie waren auf der Tanzfläche zu Hause, dem besten Ort, um sich in ihrer ganzen Pracht zu zeigen. Die starke Verbundenheit zur Musik und die Disco als Ort mit Marktplatzwichtigkeit verdeutlicht der Sampler auf eine ganz einfache, aber wirksame Art und Weise: Einige Songs sind in Extended Versions zu hören, zum Beispiel "Funky Town" von der Eintagsfliege Lipps Inc. oder auch "To Cut A Long Story Short" von Spandau Ballet, die bei diesem ersten Achtungserfolg noch wesentlich kantiger klangen, ehe sie etwas später den perfekten Soundtrack für Yuppies und Börsen-Schnösel erschufen. Auch Marianne Faithfull, einst Edelgroupie der Rolling Stones, in den 1970ern zeitweise obdachlos und stark drogenabhängig, brachte 1979 mit "Broken English" aus dem gleichnamigen Album ein ungewohnt kühlen Wave-Song aufs Parkett, der in der langen Fassung eine noch sogartigere Wirkung entfaltet. Und Grace Jones' discoide Neuinterpretation von Edith Piafs Schmachtnummer "La Vie En Rose" darf gar nicht anders als in der Langfassung angehört werden.

Die Überraschungsmomente bilden aber andere Stücke, die man so nicht auf dem Schirm hat. Bei Zager & Evans' dystopischer Nummer "In The Year 2525" kann man immer noch die Verbindung zu Visage ziehen, die sich erfolgreich diesem außergewöhnlichen Chartbreaker an- und daraus eine dem Zeitgeist entsprechende klangliche Neuausrichtung vorgenommen haben. Der heimliche Star ist jedoch Barry Gray. Nie gehört von diesem Knaben? Nun, das mag vielleicht daran liegen, dass er nur deswegen von den Machern dieses Kompendiums mit aufgenommen wurde, weil er für diverse Science-Fiction-Marionettenserien von Gerry Anderson die Titelmelodien schrieb. Gleich zweimal ist er vertreten mit der Musik zu "Thunderbirds" (1964) und "Captain Scarlet" (1967). Sie weckten die futuristischen Träume jener Kinder, die eine Dekade später selber zu Helden ihres eigenen, verschroben bunten Kosmos werden sollten.

Die Drei-CD-Box schafft es, eine persönliche Geschichte zu erzählen, nämlich die von Chris Sullivan und John Reed, die selbst in dieser Zeit groß geworden sind. "Music For New Romantics" gleicht einem Mixtape eines Typen, der in die Materie ganz tief eingedrungen ist und die wichtigen Nummern abseits der großen Charterfolge präsentiert. Zwar sind die Songs größtenteils bekannt, aber in dem Fall macht die eigenwillige, über den Tellerrand hinausblickende Mischung den Spaß aus.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 22.11.22 | KONTAKT | WEITER: THOMAS LEER & ROBERT RENTAL VS. I AM THE FLY>

Webseite:
www.cherryred.co.uk

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COVER © CHERRY RED RECORDS/EDEL

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