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RASP "RADIATE-POWER-WORDS": AUGENBLICK, VERWEILE DOCH

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Das innige Verhältnis des Musikers zu seinem Werk? Eine unendliche Geschichte. Wahrhaftige Künstler bringen nämlich nicht bloß Lieder auf Band und Papier: Sie durchleben sie - mit jeder noch so kleinen Faser ihres Körpers. In der Regel entsteht ein Song in einem äußerst langwierigen Prozess; es wird da gefeilt und dort verbessert, hier etwas hinzugefügt und woanders weggelassen. Die quälenden Fragen, ob ein fertiges Stück nicht noch besser hätte eingesungen oder musikalisch klarer strukturiert sein können, werden die meisten Autoren auch dann nicht los, wenn ihre geistigen Ergüsse längst veröffentlicht und ergo aus ihren Händen genommen sind.

Von diesen malträtierenden Gedanken scheint der Ausnahmekünstler Matt Howden wohl gänzlich befreit. Der Zauberer an der Violine entführt den Hörer unter seinem Pseudonym Sieben in entrückte Phantasiewelten. Zusammen mit Cellistin Jo Quail gründete er nun RASP, deren Erstling "Radiate-Power-Words" innerhalb von nur zwei Tagen erdacht und aufgenommen wurde.


Ungeheuerlich, ja geradezu unglaublich mutet diese Geschichte an. Sie hätte auch eine Mär des Baron Münchhausen sein können: Ein komplettes Album wird an einem Abend in einem Theater erdacht und tags darauf in einem Studio auf Band festgehalten. Geht denn so etwas? Anscheinend schon! Natürlich gehört zu diesem Unterfangen auch ein bisschen Wahnsinn, unerschütterliche Spielfreude und beflügelnder Naivität. Beides scheint Fiedler Matt Howden in gesundem Maße zu besitzen.

Noch besser gedeiht so ein Projekt aber im leidenschaftlichen Zusammenspiel mit einem "P
artner In Crime", dessen Gedanken mindestens genauso wagemutig und phantastisch verschroben sind wie die eigenen.

In der Cellistin Jo Quail hat Howden nun seine Seelenverwandte gefunden: Beide verbindet die Zuneigung zum düsteren Folk, die auf "Radiate-Power-Words" immer wieder durchblitzten darf – und beide sind, glücklicherweise, für das Unkonventionelle entflammt.


Doch die Verbindung von Matt und Jo, diesen positiv Verrückten, lässt sich nicht in schnöde Worte fassen. In diesem wahrhaft rauschenden, kreativen Strom schwingt so vieles mehr mit, das Unsagbar bleiben muss; das man nur fühlen kann, wenn man sich diesem Experiment - wie die Künstler selbst - mit all seinen Sinnen öffnet und den Verstand für einen kostbaren Moment in den Ruhemodus schaltet.


Die Muse küsste das Duo nämlich nicht einfach, sie umarmte es förmlich – und scheint seit Beginn von RASP keinen Jota mehr von deren Seite gewichen zu sein. Anders jedenfalls lässt sich kaum erklären, dass diese beiden Ausnahmemusiker es tatsächlich fertiggebracht haben, innerhalb von zwei Stunden ein ganzes Album zu schreiben.

Unerschütterliche Zweifler mögen diese Geschichte für ein Ammenmärchen halten. Spätestens der Blick in die sozialen
Netzwerke sollte sie allerdings mühelos vom Gegenteil überzeugen: RASP hielten ihren Work-in-Progress nämlich nicht nur auf Video fest, sondern luden Fans und Enthusiasten dazu ein, diesem Entstehungsprozess live beizuwohnen.

In einem kleinen Theater in Sheffield wurden die Zuschauer Zeugen – der Geburt eines neuen Werkes und einer herrlich planungs- und marketingresistenten Form der Musikproduktion.


Ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen, brachten RASP das frisch Erdachte am nächsten Tag nur ein paar Meter weiter, im Kellergewölbe des Club60, sogleich auf Band. Auch hier war ein Publikum zugegen, das auf den Aufnahmen sogar zu hören ist.

Dieser Umstand ist es, der die Dynamik von "Radiate-
Power-Words" ausmacht. Ganz nüchtern betrachtet und in konventionelle Begrifflichkeiten verpackt, handelt es sich hier ja um eine Live-CD. Trotzdem verwehrt sich das entstandene Produkt jedem noch so erklärungsreichen Versuch einer Kategorisierung. Schließlich sind sämtliche Songs nur in diesem Kontext zu verstehen – und dementsprechend lediglich als Gesamtkunstwerk zu haben. Eine geniale Idee.

"Radiate-Power-Words" ist ein faszinierender Tanz an der Schnittstelle zwischen Studio- und Live-Album.

Außerdem hält diese Aufnahme den wundervollen Anfang dieses Schaffensprozesses fest, der den Hörer sogar zu mehr auffordert, als einfach nur zu einem passiven Musikkonsum: Er blickt stets hinter die Kulissen, hört ein bewusst unfertiges Produkt. Diese Momentaufnahme ermöglicht es dem Hörer, sich den hypnotischen Klängen völlig hinzugeben, Gedanken weiterzuspinnen und sich darüber hinaus auch in die Rolle des Musikers hineinzuversetzen. Wie viele Arbeitsschritte stecken überhaupt in solch einer Produktion, und wie hätte das Album wohl geklungen, wenn es auf traditionellem Wege entstanden wäre, Veränderungen im Laufe der Entstehungsphase inklusive?


In diesem einmaligen Durchlauf bringen Matt und Jo ihr ganzes musikalisches Wissen und Verständnis aufs Tablett. Verwaiste Töne, kratzig angestrichen wie in "Breathe", beschwören eine geradezu schamanisch-gespenstisch
e Atmosphäre. Eingespielte Pizzicato-Loops und dämonisch heulende Violinklänge hingegen bereiten die Grundlage von "Psychic Experience", einem experimentellen Track Pink Floyd'scher Provenienz. Auf der repetitiven Sequenz breitet sich Matts filigrane Fidelkunst aus, während gleichzeitig ein Sprachsample vom Band erklingt – hier schaltet sich ein Freund von Matt als Unsichtbarer Dritter ins Geschehen ein, gibt seine psychischen Erfahrungen preis.

Es sind diese kostbaren Sekunden, in denen RASP vollkommen in eine andere Dimension zu entschweben scheinen, und man lässt sich nicht lange bitten, ihnen in diese emotionsdurchtränkte Welt zu folgen.

Über weite Strecken zelebrieren RASP einen undurchdringlichen Geigensound, der wie ein Spaziergang durch einen düsteren, verwunschenen Zauberwald anmutet. Nur zweimal, nämlich bei "Inside And Beyond" sowie dem finalen "Lost In Red Light"
, treiben verschleppte Rhythmen das filigrane Klangwerk voran. Unerwartet bricht es heraus, ergießt sich mit aller Wucht über den Hörer.

Am Ende steht "Radiate-
Power-Words" von seiner Veröffentlichungsform zwischen den Stühlen, was einigen Kategoriserungs-Fanatikern sicherlich den Schweiß auf die Stirn treiben wird.

Doch mehr noch als die Frage, ob nun "Live- oder doch Studioalbum?" ad absurdum zu führen, offenbart die Platte vor allem die unglaubliche Klangvielfalt, die sich mit viel Herz, Genie und Wahnsinn aus einem Saiteninstrument herauskitzeln lässt. Das ist zwar seit jeher die besondere Stärke von Matt Howden alias Sieben – aber so impulsiv und instinktiv wie hier, im Zusammenspiel mit Jo Quail, hat man ihn bis dato wahrscheinlich noch nie gehört.


Augenblick, verweile doch: Gerne und immer wieder, wenn man ihn mit unerschütterlich idealistischen Musik-Künstlern der Marke RASP teilen darf, denen der Klang alleine alles ist.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 12.01.15 |  KONTAKT |  WEITER: MATT HOWDEN (RASP) IM INTERVIEW >


Mehr zu Matt Howden auf UNTER.TON
Doppel-Kritik: "No Less Than All" und "Each Divine Spark"


Websites
www.matthowden.com
www.joquail.co.uk


COVER © REDROOM RECORDS; © FOTOGRAFIE (AUSSCHNITT) CHRIS SAUNDERS.

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