KONTRAST "BALANCE": IM EINHEITSSCHRITT ZUM GLEICHGEWICHT
Als selbst ernannte "Scharfrichter des schwarzen Humors" schafften sie etwas, das in dieser Form zuvor nie denkbar gewesen wäre: Mit ihrem Song "Einheitsschritt" reüssierte die Elektronik-Truppe Kontrast in der Gothic-Szene – jenem kulturellen Biotop also, das sie in diesem Stück mit beißendem Witz aufs Korn genommen hatten. Seither werden sie als Gruftie-One-Hit-Wonder gehandelt – zu Unrecht, denn ihre Alben "Kontrastprogramm" (2002), "Industrieromantik" (2004) und "Vision und Tradition" (2008) haben weitaus mehr zu bieten als die üblichen, apokalyptischen Horror-Texte inklusive dumpfem Reim-dich-oder-ich-freß-dich-Habitus.
Bereits vor einigen Monaten sprach UNTER.TON mit Roberto, Falko und Dirk über ihr neuestes Werk "Balance". Damals suchten sie noch nach einem geeigneten Label für ihre Kunst. Mittlerweile hat sich Danse Macabre dem Album, das es sich zwischen skandinavisch-schockgefrorener Elektronik à la Covenant und kraftwerk'schem Klang-Minimalismus bequem gemacht hat, angenommen. Kleine Überraschung: Der "Einheitsschritt" ist auch wieder mit von der Partie...
Einmal nur den großen Wurf zu landen – davon träumen viele Künstler. Das richtige Stück zur richtigen Zeit zu produzieren; sich einen unverrückbaren Platz im kollektiven Gedächtnis der Popkultur zu sichern.
Schönes Ziel im Grunde, allerdings nicht ganz ungefährlich: Nur auf einen Song reduziert zu werden, lässt oftmals auch sämtliche Kreativität im Keim ersticken. Am Ende fristet der Musiker als abgehalfterter Ex-Popstar ein bemitleidenswertes Dasein: In Freizeitparks und bei Möbelhaus-Eröffnungen trägt er bald nur mehr altbewährtes Liedgut vor, wohl wissend, dass die überschaubare Menge treuer Anhänger sowieso nur diesen einen Hit von ihm hören will. In seinen schwächeren Minuten beklagt der resignierte Held von einst, wie leid er dieses dümpelnde Dasein als musikalische Eintagsfliege doch ist. Er verflucht seinen Schlager, wird trotzig – und klammert das Stück auf Konzerten einfach aus. Alles nur, um sich von diesem “Fluch” zu befreien.
Freilich eine legitime Handlung. Allerdings vergrault solch eine Einstellung meistens auch noch den letzten Fan und befördert den Interpreten schlussendlich ins Abseits. Musik will gehört, Komponisten wahrgenommen werden.
Deswegen haben auch Kontrast ihren "Einheitsschritt" nicht zum Dämon erklärt. Wie ein braves Hündchen bleibt der Song an der Leine und darf dafür jetzt auch wieder in Erscheinung treten: Für die Download-Version der neuen Platte hat das Neuruppiner Elektrokombinat Uselesssense den größten Kontrast-Kracher durch den Sound-Fleischwolf gedreht– mit ordentlichem Ergebnis.
Solch ein entspanntes Verhältnis zu ihrem bisher einzigen großen Szene-Hit besitzt einen klaren Vorteil: Es macht den Musiker ausgeglichener, weswegen der Titel "Balance" nicht besser hätte gewählt sein können.
Während der Vorgänger "Vision und Tradition" mit teilweise sehr sperrigen Arrangements hantierte, legen die Kontrastler ihr Hauptaugenmerk nun wieder auf den Kern der Songs. Anstatt sich in klanglichen Spielereien zu verlieren, stehen die Geschichten und ihre Aussagen im Vordergrund – ohne dabei den für das Trio typischen Humor zu verlieren .
So legt "Ich bin es nicht!" die Doppelmoral unser Gesellschaft schonungslos offen. Einerseits darauf bedacht, als Individuum die teils schweren Hürden des Lebens zu nehmen, wünschen sich viele dann doch insgeheim, durch biedere Angepasstheit ein bequemeres Dasein fristen zu können. Mit bewusst schiefer Stimme brüllt es der Frontmann heraus: "Doch manchmal wünsche ich mir schon, ich wär' kein Tropfen, sondern der Strom." Dem Wunsch nach Konformismus stehen kantige Klänge diametral gegenüber, die den Sarkasmus des Textes perfekt einfangen. Eine Spur verrückter geht es auf "Bernadette" zu: Der anderthalbminütige Song ist zwar absoluter Nonsense, offenbart aber zugleich das gute Gespür Robertos für den Rhythmus unserer Sprache.
Was "Vision und Tradition" im Titel versprach, wird nun auf "Balance" eingelöst.
Tief in der deutschen Geschichte elektronischer Klangkunst verwurzelt, verbeugen sich Kontrast abermals vor den Düsseldorfer Musik-Robotern von Kraftwerk. Ihre Hommage "Europareise" vereint die Postkartenidylle von "Europa endlos" mit der stringenten Melodik von "Radioaktivität" – ein gekonnter Kunstgriff, der in rund vier Minuten Spieldauer so ziemlich alle Attribute der Elektronik-Pioniere versammelt. Mit "Diese Nacht wird unser sein" huldigen Kontrast der Diskothek als utopisch klassenlosem Ort – konsequent von wirbelnden Drumbeats und jeder Menge 80er-Soundeffekte untermalt: Aus der Ferne winken die Kollegen von Welle:Erdball.
Dies also zur "Tradition". Die "Vision" präsentiert das Quartett seinen Hörern in Form von "John Maynard".
Eifrigen Germanisten und Liebhabern klassischer Lektüre dürfte der Titel bekannt vorkommen: Schließlich handelt es sich hier um die berühmte Ballade von Theodor Fontane. Basierend auf wahren Begebenheiten, erzählt sie die Geschichte des John Maynard, Steuermann eines Passagierschiffes auf dem Eriesee. Als kurz vor Ende der Überfahrt von Detroit nach Buffalo ein Feuer auf dem Deck ausbricht, versucht Maynard, das schützende Ufer noch rechtzeitig zu erreichen. Auf diese Weise rettet er vielen Menschen das Leben, bezahlt aber für diese Heldentat mit seinem eigenen.
Bei Kontrast wird das Werk zum Club-Track im Hörspielformat: Stimmungsvoll vorgetragen, verschmelzen die Zeilen mit vorantreibenden Beats und der kühlen Noblesse wabernder Synthesizerflächen zu einem außergewöhnlichen Lied. Ganz deutlich klopfen an dieser Stelle Covenant an; Roberto selbst macht allerdings auch keinen Hehl daraus, dass man sich hier klar an den Schweden orientiert hat. Vorbild in diesem Fall war übrigens "Der Leiermann", bei dem Covenant das gleichnamige Poem von Wilhelm Müller (1794-1827) einst überaus tanzbar vertonten.
Aber nicht nur das Klang-Universum von Kontrast hat sich ausgedehnt, auch die Themenbreite ist um ein beachtliches gewachsen: Roberto und seine Mitstreiter zeigen sich auf “Balance” deutlich reifer, sind mit den Jahren nachdenklicher geworden.
Vor allem "Das Karussell" bringt eine bislang unbekannte Saite der Klangforscher zum Schwingen: Das Stück handelt von einem Karussellbesitzer, der zum letzten Mal sein Fahrgeschäft eröffnet, weil sich einfach keiner mehr für das mittlerweile antiquierte Stück interessieren mag.
Erzählt aus der Sicht eines Mannes, der früher selbst mit dem Karussell gefahren ist, offenbart sich dem Hörer gleich ein doppelter Schicksalsschlag: Der Besitzer verliert seinen Lebensinhalt; dem Erzähler wird ein Stück seiner Kindheit genommen. Unterlegt mit einem an OMDs "Maid Of Orleans" erinnernden Walzer-Rhythmus sowie synthetischen Streichern, entfaltet das Stück die stärkste Intensität. Man nimmt Teil an der Traurigkeit der Protagonisten, spürt selbst den Schmerz des Abschieds und der Vergänglichkeit.
Nachdenklich mutet auch der Titelsong an: Unter gedrosseltem Tempo und transparenter Elektronik stellt Sänger Roberto mit "Balance" die ultimative Sinnfrage: Sind wir in unserem Handeln frei oder fremdbestimmt? Sind wir tatsächlich unseres Glückes eigener Schmied? Oder leben wir nur, um andere glücklich zu machen? Diese Fragen bleiben am Ende offen; Antworten findet der Hörer letztendlich nur in sich selbst.
Die Gruppe aus dem Hohen Norden will Denkzellen reanimieren – und streut am Rande noch eine berühmte Textzeile aus dem "Einheitsschritt" ein. Ganz ohne geht es dann eben doch nicht, aber das ist auch gut so.
|| TEXT: DANIEL DRESSLER / DATUM: 23.10.2014 | KONTAKT | WEITER: SOPOR AETERNUS "MITTERNACHT" >
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www.einheitsschritt.de
BILDQUELLE © DANSE MACABRE.
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