ROTERSAND; "ZWEIFEL GEHÖREN ZUM KREATIVEN PROZESS EBENSO WIE SELBSTBESOFFENE BEGEISTERUNG" - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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ROTERSAND; "ZWEIFEL GEHÖREN ZUM KREATIVEN PROZESS EBENSO WIE SELBSTBESOFFENE BEGEISTERUNG"

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Buchstäblich aus dem Nichts heraus betraten Rotersand den Musikzirkus anno 2003 mit ihrem musikalischen Erstschlag "Truth Is Fanatic", der von Presse und Publlikum überschwänglich gefeiert wurde. Knapp 20 Jahre später ist es Zeit für eine erweiterte Wiederveröffentlichung dieses Meilensteins und des nicht minder stilprägenden Nachfolgers "Welcome To Goodbye", das zwei Jahre später erschien. Jan Eric Wesenberg, genannt Krischan, vermeidet einen larmoyanten Blick zurück und erzählt sachlich, aber nicht unspannend, über die kreativen Prozesse innerhalb einer Band, die zwar nach seinen Aussagen auch viel Liebeslyrik schreibt, aber hauptsächlich als gesellschaftskritisches Projekt verstanden wurde und immer noch wird.

Ihr habt Eure beiden ersten Alben "Truth Is Fanatic" und "Welcome To Goodbye" erneut und mit vielen Extras wiederveröffentlicht. Was war der Grund für diese Re-Releases?

Krischan: Der Grund hat einen Namen und ist ein Mensch und Freund: Stefan Herwig. Zufällig ist er auch Chef bei Dependent Records. Seinem Einsatz und seiner Motivation sind diese Re-releases hauptsächlich zu verdanken. Er hat uns solange damit beredet, bis wir selber geglaubt haben, dass "Truth Is Fanatic" und "Welcome To Goodbye" es verdient hätten, nochmals in erweiterten Editionen und Formaten zu erscheinen.

Die Neuauflagen kommen mit einigen Extra-Songs und aufwändig gestalteten Booklets daher. In Zeiten von Streamingdiensten und auf das Wesentliche reduzierte Veröffentlichungen ein gewagter Schritt, oder?
Krischan: Eigentlich nicht. Es gibt parallele Entwicklungen in zwei Richtungen: einerseits das reine, puristische Hören von Musik, was sich in den Streamingdiensten zeigt, und andererseits einen erhöhten Bedarf an aufwändigeren und exklusiveren Formen, die der Musik durch Gestaltung und Inhalte mehr Kontext und Rahmen geben, sowie eine gewisse Ausstellungsqualität.

Zusätzlich erscheinen die Wiederveröffentlichungen als Vinyl – und damit folgt ihr dem Trend der letzten knapp 15 Jahre, viele Veröffentlichungen auch wieder auf Schallplatte zu drucken. Erfreut Euch diese Entwicklung?
Krischan: Erfreuen wäre etwas hoch gegriffen. Aber dennoch stellen auch wir fest, dass es einen Unterschied macht, Musik von einer Schallplatte oder via Streamengdienst zu hören. Das hat aber weniger mit dem Song an sich zu tun. Vielmehr scheint der Akt, eine Schallplatte auszupacken, sie auf ein Abspielgerät zu legen und die Nadel aufzusetzen, direkt eine andere Stimmung zu erzeugen, die eine höhere Aufmerksamkeit bewirkt.

Für "Welcome To Goodbye" hat Joakim Montelius von Covenant einige Liner-Notes verfasst. Wie kam es zu dieser Idee, einen "Außenstehenden" in die Wiederveröffentlichung zu involvieren?
Krischan: Ich finde es stets schwierig, als derjenige, der die Musik selbst geschaffen hat, darüber zu reden oder schreiben, ohne dabei gestelzt, artifiziell oder - noch schlimmer - werblich zu klingen. In Interviews geht das manchmal. Wir wollten daher Wegbegleiter zu Wort kommen lassen, die uns schon lange freundschaftlich verbunden sind. Da wir ja 2006 die Skyshaper-Tour von Covenant als Support begleiten durften, lag es nahe, jemanden wie Joakim zu bitten, seine Erfahrungen mit uns und seine Sichtweise auf das Album und die Band einzubringen. Stefan Herwig als Initiator der Wiederveröffentlichungen durfte da natürlich auch nicht fehlen.

M
it diesen beiden Scheiben habt ihr zwei einflussreiche und stilistisch maßgebliche Alben für die mittleren 00er Jahre abgeliefert. Bekommt man im Laufe der Arbeit an einem Album das Gefühl, dass etwas Großes entsteht, oder kann man das als Künstler gar nicht einschätzen?
Krischan
: Das kann ich nicht einschätzen. So ein Prozess durchlebt alle Höhen und Tiefen, von "wow, das is das beste, was wir je gemacht haben" bis hin zu "lassen wir das mit der Musik doch einfach sein, wir können's nicht". Das ist auch richtig und wichtig. Zweifel gehören zum kreativen Prozess, ebenso wie selbstbesoffene Begeisterung. Und als Schaffender ist man auch zu nah dran an den Songs während sie entstehen und kann vor lauter Arbeit daran nicht mehr erkennen, ob dann etwas Großes für einen subkulturellen Rahmen oder nur für einen selber entsteht. Ist wahrscheinlich hinkend vergleichbar mit alltageglichen Prozessen wie das Altern: Nach langer Zeit trifft man einen alten Bekannten wieder, der zu Dir sagt: "Mensch, du hast aber abgenommen". Was aber einem selber, der man sich tagtäglich sieht, gar nicht als krasse Veränderung auffällt, außer wenn man dann vielleicht Fotos von früher sieht.

Ohnehin seid ihr nun schon fast 20 Jahre als Rotersand unterwegs. Hättet ihr jemals geglaubt, dass diese Reise so lange geht?
Krischan
: Die Länge der Reise: ja. Dass es jemanden interessiert, was wir tun, und immer noch zu interessieren scheint, eher nicht.

Eure Songs sind in erster Linie tanzbar, aber sie haben im Vergleich zu anderen Bands eine zum Teil sehr philosophische und gesellschaftskritische Komponente, die besonders in den letzten Jahren mit den Alben "Capitalism™" und "How Do You Feel Today?" immer offener zu Tage tritt. Doch auch schon bei Euren ersten beiden Alben ist dieses Stilmittel tendenziell angelegt. War für Euch mit Gründung der Band wichtig, dass Eure Texte Botschaften in sich tragen, oder hattet ihr einfach weniger Bock auf Liebeslyrik?
Krischan
: Nanana, wir haben auch eine ganze Menge Liebeslyrik im Repertoire. Aber ja, wir hatten stets ein Interesse für das, was ich scherzhaft als "Die Welt, das Individuum und was geschieht dazwischen" beschreibe. Es geht also um Kommunikation und Soziologie, dem Verhältnis von ganz klein zu ganz groß und der Austausch dazwischen. Die Veränderungen, die wir in der Welt wahrnehmen, und was sie mit uns einzelnen kleinen verletzlichen unsicheren Menschlein an Irritationen und Auswirkungen mit sich bringen.

Wenn ihr auf die beiden ersten Alben zurückblickt, was würdet ihr, oder würdet ihr überhaupt etwas anders machen?
Krischan
: Das ist eine Frage, die wir uns besser nicht stellen. Fängt man als Musiker an, diese Frage häufiger mitzudenken, bekommt man nie einen Titel fertig. Ein Stück Musik ist immer auch ein Bruchstück des Momentes oder der Zeitspanne, in der es entsteht. Gewiss kann man jetzt, eineinhalb Jahrzehnte später, vieles finden, was aus heutiger Sicht und Erfahrung anders zu machen wäre, aber das nützt nichts. Und damals war es gut, wie es ist.

Gibt es dennoch einen Song aus diesen beiden ersten Werken, auf den ihr immer noch stolz seid und den ihr immer wieder gerne performt, ohne dass er Abnutzungserscheinungen hat?
Krischan
: Ich mag da eigentlich keinen einzelnen Song hervorheben. Aber sicherlich hat "Merging Oceans" als erstes offizielles Lebenszeichen der Band einen besonderen Stellenwert. Das hat jedoch weniger mit mögen oder nicht mögen zu tun, als einfach damit, dass es nun mal das erste Stück war. "Exterminate, Annihilate, Destroy" ist sicherlich auch so ein die Band definierender Track mit einer der fünf magischen Sequenzen, die man als Musiker vielleicht geschenkt bekommt.

Welche Ereignisse oder Anekdoten verbindet ihr mit "Truth Is Fanatic" und "Welcome To Goodbye", die Euch vielleicht als Band noch ein bisschen stärker zusammengeschweißt haben?
Krischan
: So eine Band schweißt sich ja im gemeinsamen Arbeiten zusammen. Das beinhaltet halt auch Reibungen auf künstlerischer, kreativer und persönlicher Ebene. Aus dem Austausch der Persönlichkeiten erwächst dann im Zirkulieren um die wachsende Musik diese Beziehung, die sich Band nennt. Wir haben eigentlich nie Songs geschrieben und produziert, bei denen wir vorher gesagt haben: "Heute schreiben wir eine Ballade", oder ähnliches. Es hat sich aber früh herauskristallisiert, dass wir gerne relativ am Anfang einen Albumtitel für uns festgelegt haben, der uns hilft, uns als breit interessierte Menschen thematisch zu fokussieren und eine Stimmung zu setzen.

So richtig wahrgenommen habe ich Euch tatsächlich bei einem Live-Konzert in Münchner "Feierwerk" als Vorgruppe von Assemblage 23, ich weiß gar nicht mehr, wann das war. Ich weiß allerdings noch, dass ihr mich derart beeindruckt habt, weil Ihr Bühnenpräsenz gezeigt und Euch nicht nur hinter Eure Keyboards geklemmt habt. Wie sehr liebt ihr Gigs und wie sehr habt Ihr sie in der Pandemie vermisst?
Krischan
: Das muss 2004 gewesen sein. Ja, diese Keyboardposition ist schon eine seltsame, weil man da so weit weg ist und irgendwie hinter einem Mäuerchen versteckt sein Bühnendasein fristet und zumeist auch niemandem im Publikum ersichtlich ist, was man da eigentlich tut. Das ist die Krux bei elektronischer Musik und ihrer Live-Perfomance, dass, im Unterschied zu einer Rockband, weniger "what you see is what you hear" geschieht. Wie sehr wir Gigs vermisst haben, wurde uns allerdings erst klar, als wir wieder welche spielen konnten.

Gedenkt ihr, auch die nachfolgenden Alben erneut zu veröffentlichen, oder beschränkte sich diese Aktion nur auf die ersten beiden?
Krischan
: Wir werden sehen, aber irgendwie erscheint es mir konsequent, auch die nachfolgenden Alben in solchen Editionen nochmals aufzulegen, falls es sich zeigt, dass sich jemand für diese beiden vorliegenden interessiert und ihnen Liebe entgegenbringt.

|| INTERVIEW: DANIEL DRESSLER | DATUM: 10.12.21 | KONTAKT | WEITER: DEINE LAKAIEN VS. ASP >

Website
www.rotersand.net

Foto © Dirk Eusterbrock
Cover © Dependent Records

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