PRIMER "INCUBATOR" VS. DIE KERZEN "PFERDE UND FLAMMEN" VS. xPROPAGANDA "THE HEART IS STRANGE": UNENDLICHE GESCHICHTE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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PRIMER "INCUBATOR" VS. DIE KERZEN "PFERDE UND FLAMMEN" VS. xPROPAGANDA "THE HEART IS STRANGE": UNENDLICHE GESCHICHTE

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Man sollte sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Schließlich bedeutet wohlfeil arrangierte Popmusik nicht unbedingt, dass es textlich da ähnlich sonnenscheinmäßig zugeht. Wer erinnert sich noch an das vor 20 Jahren erschienene Album "Harmonizer" von Apoptygma Berzerk? Ein perfektes Pop-Album, entstanden in der düstersten Phase seines Lebens, so Mastermind Stephan Groth.

Bei Alyssa Midcalf verhält es sich ähnlich. Die Amerikanerin bringt unter ihrem Alias Primer mit dem Zweitling "Incubator" ein Werk heraus, dass sie, wie sie selbst sagt, aus den zum Teil seltsamen Erfahrungen, die sie schwer getroffen haben, erwachsen sind. Angesichts der retrofuturistischen Synthesizer-Klänge, die Midcalf üppig auffährt, fast nicht zu glauben. Doch wer aufmerksam die Texte studiert, merkt schnell: Diese junge Frau hat schon einiges erlebt und sich über vieles Gedanken gemacht.

Unmögliche Gedanken sogar, wenn man den Opener wörtlich nehmen darf. Doch "Impossible Thoughts" ist eine Abrechnung mit den gesellschaftlichen Normen, deutlich aus der Sicht einer Frau erzählt. Die blubbernden Sequencer und zum Tanz auffordernden Beats führen aber geradewegs in die persönliche Katastrophe: "The world is ending either way, I accept it, but I don't wanna live that way". Alles um sie herum bricht zusammen, aber sie will sich damit nicht abfinden.

Doch bereits bei "Just A Clown" haben die Selbstzweifel Hochkonjunktur. "Who are you?" fragt sie. Aber mehr sich selbst als den Zuhörer. In diesem Stück verarbeitete die Musikerin, wie sie selbst sagt, ihr Hadern mit ihrem Stand als Musikerin. Denn teilweise habe sie das Gefühl gehabt, dass sie sich mit ihrer Musik zum Affen mache. Die positiven 80er Synthie-Pop-Manierismen beweisen aber das genaue Gegenteil: Sie ist mit einem großen musikalischen Talent gesegnet; es aufzugeben wäre nicht nur fahrlässig, sondern gänzlich surreal.

Denn schwelgerische Synthie-Flächen und pluckernde Beats in Einklang mit einem anrührenden Text über eine in die Brüche gegangene, vielleicht toxische Beziehung zusammenzubringen, wie sie es auf "Anything" getan hat, ist nicht unbedingt die leichteste Übung. Auch "Feel The Way I Do", das mit zu den stärksten Stücken auf "Incubator" zählt, zeigt die Musikerin als große Grüblerin vor dem Herrn. Am Ende geht es aber letzten Endes nur um zwei Sachen: Selbstbestimmung und Orientierung in der Welt. Was eben junge Menschen umtreibt, wenn sie mit offenen Augen durch ihr Leben mäandern. Primer hat dieses Gefühl punktgenau in zehn atemberaubenden Liedern eingefangen.

In Schönheit sterben - das beschreibt am besten das musikalische Verständnis der Kerzen aus Ludwigslust. Oder um es überspitzt zusammenzufassen: Sie sind mehr New Romantic als es die Bands aus dieser Zeit jemals hätten sein können. Ihre butterweichen Synthie-Sounds wirken wie ein extrem relaxter Tag schnöseliger Neu-Ökonomisten am Pool ihrer Villa. Alles sehr dekadent, alles sehr nihilistisch bei ihrem aktuellen Werk "Pferde und Flammen". "ich bin zu schön, um nicht allein zu sein" klingt es dann auch folgerichtig und mit viel Bling-Bling aus den Boxen.

Doch hinter den verträumten Arpeggio-Linien und den leicht modulierten Stimmen schimmert die Sinnlosigkeit der Existenz durch. Die Diskrepanz zwischen Dekadenz und sinnbehafteter Existenz verschafft sich bereits im vorangestellten Song "Staub zu Staub" Gehör. DAFs "Verschwende Deine Jugend" wird zitiert, doch wo das Proto-EBM-Duo eine anarchische Auslegung dieser Sentenz predigen, sind die Kerzen der Raserei bereits überdrüssig. Höchstens das besungene "Cabriolet" ist eine mögliche Form des Ausbruchs (vor allem, weil jenes Vehikel geklaut wurde).

Kerzen-Frontmann Felix Keiler jedenfalls ist ein Entertainer im klassischen Sinne und allererster Güte. Er intoniert seine Texte mit einer gehörigen Portion Ennui eines Neureichen. Seine Songs sind wie goldener Lamettaregen, der auf die Nummern niederregnet. Man fühlt sich wohlig an die Stücke von Prefab Sprout erinnert. Damit ist "Pferde und Flammen" von ihrem 2019er Debut "True Love" stilistisch kaum ein Jota von abgewichen.

Aber warum auch? Die Band hat sich musikalische bereits gefunden, ihr neuromantischer Kosmos wird nun weiter ausgelotet, Größenwahnsinn inklusive. "Die Kerzen laufen jetzt im Radio", singt Keiler in "Staub zu Staub". Das ist leider noch nicht der Fall. Zumindest in den einschlägig bekannten Sendern wird das Quartett sicherlich unter Radar fliegen. Aber schön wäre es schon. Denn die Songs sind allesamt eine heilsame Alternative zu den dummdödeligen Deutsch-Pop-Barden, die sich in einer Mittelmäßig- und Eigenschaftslosigkeit suhlen, dass man geneigt ist, nie wieder das Empfangsgerät einzuschalten. Würden Die Kerzen aber auf schwerer Rotation laufen und Songs wie "Bye Bye" oder "Jelly" über den Äther gesendet, die Radiolandschaft wäre eine andere, eine bessere.

Wovon Die Kerzen musikalisch träumen - eine Rückkehr in das Jahrzehnt des geschmeidigen selbstrefierenden Pop - haben Susanne Freytag und Claudia Brücken selbst miterleben und sogar -gestalten dürfen. Jedoch waren sie als Chanteusen des von Krupps-Mitglied Ralf Dörper ins Leben gerufenen Projekts Propaganda weniger die Verfechter wohlfeiler Songs als vielmehr eine düster-teutonische Version davon.

Das hat damals den Briten Trevor Horn aber nicht davor abgeschreckt, sie unter Vertrag bei seiner Plattenfirma ZTT zu nehmen. Die zunächst sehr avantgardistisch auftretenden Propagandisten haben unter ihm einen musikalischen Feinschliff bekommen, ihr Debut "A Secret Wish" zählt immer noch zu den Meilensteinen komplex-dunkler Electro-Pop-Mucke. Danach zerbrach die Band aber wieder, Dörper ging zu den Krupps zurück, die nachfolgenden Alben wurden Misserfolge

Immer wieder gab es Bestrebungen, Propaganda zu reaktivieren. Nun also der nächste Versuch als xPropaganda. In der Wahl des Bandnamens steckt schon der Hinweis, dass einiges beim alten geblieben, aber einiges auch neu ist. Neu ist vor allem ist, dass nur noch Brücken und Freytag zu sehen sind. Ansonsten erinnert vieles an die Glorie vergangener Tage. "The Heart Is Strange" ist wieder auf ZTT veröffentlicht und auch der Sound zeigt sich, bei allen Neuerungen und produktionstechnischen Raffinessen am Puls der Zeit, immer wieder auf die erfolgsverwöhnten Tage fokussiert.

Nicht umsonst wurde "The Night" an den Anfang dieses Albums gestellt, hat dieses über weite Strecken als Instrumental fungierende Stück einen ähnlichen künstlerischen Anspruch wie "Dream Within A Dream", dem Eröffnungsstück von "A Secret Wish". Doch noch näher steht das neunminütige Endstück "Ribbons Of Steel" mit seinen relaxten Trompeten dem einstigen Opener nahe. Anfang und Ende von "The Heart Is Strange" vermitteln der geneigten Hörerschaft anheimelnde Klänge, so diese mit dem Propaganda-Oeuvre vertraut sind.

Doch sie werden sich auch mit neuen, transparenten Electro-Pop-Nummern wie "Chasing Utopia", der in seiner Rhythmik auch einem Karl Bartos hätte entfleuchen können, anfreunden. Geradezu widerborstig sind "Only Human" und "Don't (You Mess With Me)" (Letztgenannte mit leicht angezerrten Stimmen), und doch schaffen sie, wie alle acht Songs des Albums, eines ganz vortrefflich: Sie bleiben nach einem Hörgang sofort hängen.

xPropaganda erobern den angedunkelten Synthie-Pop zurück, verfrachten ihn gekonnt in die Gegenwart und schreiben damit, wie auch Primer und Die Kerzen weitere Kapitel in der scheinbar unendlichen Geschichte der elektronischen Klangerzeugung.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 01.11.22 | KONTAKT | WEITER: HVOB VS. MODERAT VS. VITALIC>

Webseite:
www.xpropaganda.co.uk

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COVER © EGGHUNT RECORDS (PRIMER), STAATSAKT (DIE KERZEN), ZTT/UNIVERSAL (xPROPAGANDA)

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