DER ELEKTRISCHE MANN "MUSIK MUSIK MUSIK" VS. FORETASTE "HAPPY END!": NEUES AUS DER NACHBARSCHAFT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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DER ELEKTRISCHE MANN "MUSIK MUSIK MUSIK" VS. FORETASTE "HAPPY END!": NEUES AUS DER NACHBARSCHAFT

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Metaebene, ick hör dir trapsen: "Musik Musik Musik" ist nicht nur die erste Single des Projektes Der Elektrische Mann und gleichzeitig Namensgeber seines fulminanten Debüts, sondern auch eine dekonstruierte Coverversion des Schlagers "Ich brauche keine Millionen (Musik, Musik, Musik)". Dieses Stück stammt aus dem 1939 erschienenen Tanzfilm "Hallo, Janine" und fängt in seiner ganzen Naivität (die Melodieführung des Liedes sollte später Grundlage für das Eröffnungsstück der "Muppets" sein) die Stimmung eines gesamten Landes am Vorabend des Zweiten Weltkrieges ein. Vor der dräuenden Gefahr hatten Filmchen mit Revuecharakter und apolitisch-romantische Heile-Welt-Schnulzen eben Hochkonjunktur.

Die Vorzeichen heutzutage sind zwar andere als vor über 80 Jahren, die Wünsche dürften sich aber tatsächlich ähneln. Die Sehnsucht nach Normalität und den einfachen Freuden des Lebens dürften nach einem Jahr Pandemie sicherlich nicht minder groß sein. Aber Der Elektrische Mann verbittet sich jegliche Form von Romantisierung. Sein "Musik Musik Musik" ist ein bis auf die zackigen Rhythmen ausgezogenes Post-NDW-Stück, bei dem Sänger Ane H. in grummlig-nuschligem Duktus, der irgendwo zwischen Joachim Witt und Gabi Delgado von DAF anzusieden ist, eine latente Erotik versprüht.

Ane weiß ganz genau, was er tut. Immerhin spannt sich sein musikalischer Werdegang über fast vier Jahrzehnte. Mit den Swamp Terrorists hat er dem Electro-Industrial-Affen in den 90ern ordentlich Zucker gegeben. "Truth Or Dare" dürfte dem einen oder anderen da noch in Erinnerung kommen. Mittlerweile kommt der Sänger auf etwas leiseren Sohlen daher, seine Bissigkeit hat er aber augenscheinlich nicht verloren.

Denn auch hinter "Wir geben nichts her", der zweiten Vorabauskopplung mit den Sägezahn-Sequenzen und dem eher spärlichen Electro-Clash-Arrangements, versteckt sich ein heller Geist, der dem Volk aufs Maul schaut. Radikale Meinungen scheinen dieser Tage nämlich so salonfähig wie seit langem nicht mehr zu sein. Extremistens zeigen ungehemmt ihre Geesinnung zur Schau und finden immer mehr Zustimmung. Dagegen geht Der Elektrische Mann im Rahmen seiner künstlerischen Möglichkeiten vor.

In diesen Momenten, wie auch auf dem Rest der Platte, scheint der Punk durch, den das Projekt auf eine ursprüngliche Art und Weise wieder zum Leben erweckt,. Es geht zuförderst um die dilettantische Feude an der Musik, die mit dem Aufkommen der ersten erschwinglichen Synthesizer eine unbedarfte Energie freisetzte. Genau da setzt Der Elektrische Mann an - mit dem Ergebnis, dass "Musik Musik Musik" das einlöst, was es verspricht: einen Reigen von Stücken von unmittelbarer Ausgelasssenheit, inklusive angedeutetem Gorgio-Moroder-Gedächtnis-Arpeggio in "Baby Baby" und der nicht unchiquen Übernahme des bekannten Riffs von "My Sharona" von
The Knack für "Ohne Gewähr".

Das unterhält natürlich ungemein, auch wenn "Musik Musik Musik" nicht allein darauf aus ist. Politische Statements mit eingängiger Elektronik zu paaren war und ist eine gute Idee, die sich nicht verbraucht hat. Es kommt nur darauf an, den richtigen Zugang zu finden. Und das haben Der Elektrische Mann mit Bravur gemeistert.

Textlich zeigen sich die Franzosen von Foretaste sicherlich nicht so auf Krawall gebürstet wie ihre Schweizer Kollegen. Und doch merkt man dem Projekt, das bereits seit 15 Jahren existiert, eine gewisse Angepisstheit an. Diese manifestiert sich bereits im sehr plakativ gehaltenen Albumcover: An einem See hält ein Pärchen Händchen, während scheinbar ein wuchtiger Planetoid auf der Sonne einschlägt. Der Titel des neuesten Werks: "Happy End!" - mit Ausrufezeichen!!! Da hat jemand wohl nicht gerade Bock auf die Welt.

Nun ist auch dieses Album während der Corona-Pandemie entstanden. Und bekanntermaßen waren die Maßnahmen, die in Frankreich getroffen wurden, um der Ausbreitung des Virus Herr zu werden, besonders drastisch. Es liegt daher durchaus im Bereich des Möglichen, dass sich Creature_XX, verantwortlich für den Gesang, und Creature_XY, verantwortlich für alles andere, mit diesem Album auch den Frust von der Seele geschrieben haben.

Der Titelsong zeigt jedenfalls unter manisch-monotonen Rhythmen und Bassläufen, dass irgendetwas verdammt schief läuft. Die ungewisse Zukunft macht sich in jeder Note dieses Stück bemerkbar. Der finalen Betrachtung - "Happy End!" schließt dieses substantiell hochwertige Album - gehen aber auch eskapistische Gedanken voraus. Wie bei "Robotic Blues", das die Vision einer künstlichen Intelligenz mit Herzschmerz sehr eindringlich in Töne gießt. Ebenso lässt "Lost For Seven Years" bei aller maschinellen Kühle eine melancholische Wärme zu. Selbst im umherflanierende Instrumental "Bored To Death", bei dem es nach Herzenslust zischt und fiept, wird eine romanische Sehnsucht hörbar.

Foretastes Musik lebt in erster Linie aber von der Spannung zwischen harmonischem Gesang (Creature_XXs Englisch mit französischem Akzent wirkt zusätzlich sehr charmant) und krakeligem Elektro-Pop. Dass das Duo auf dem französischen Kultlabel Boredom veröffentlicht, ist sicherlich nicht ganz zufällig, denn ähnlich wie ihre Labelkollegen von Celluloide, gehören auch Foretaste einer neuen Generation Musikern an, die sich vom Erbe Jean Michel Jarres inspirieren lassen und gleichzeitig weiterdenken. Für den Hörer jedenfalls ist "Happy End!" eben genau dieses.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 26.02.21 | KONTAKT | WEITER: FEEDING FINGERS "I WON'T EAT THE HORROR">

Webseite:
www.derelektrischemann.com
www.facebook.com/foretastemusic

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Cover © Boom Jah Records/Broken Silence (Der Elektrische Mann), Boredomproduct (Foretaste)

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