MIN_T "SHOT TO PIECES": SOULECTRO MIT NACHHALTIGKEIT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

Direkt zum Seiteninhalt

MIN_T "SHOT TO PIECES": SOULECTRO MIT NACHHALTIGKEIT

Kling & Klang > REVIEWS TONTRÄGER > M > MIN_T

Die Erschwinglichkeit der Instrumente und Studiosoftware ermöglicht es nahezu jedem, der ein bisschen Klang- und Rhythmusverständnis besitzt, von seinen eigenen vier Wänden aus die Welt mit seinen Werken zu fluten. Das ist in erster Linie nicht unbedingt schlecht; man kann diese Entwicklung wohlwollend als Demokratisierung der Kunst bezeichnen. Die Kehrseite dieses Überangebots ist jedoch, dass es zunehmend schwieriger wird, bahnbrechende Innovationen ausfindig zu machen.

Dennoch blitzen sie dann und wann auf, die unerwarteten, erstaunlichen und überraschenden Alben. Wie eben "Shot To Pieces" von MIN t. "Minimal Techno mit Gesang" beschreibt Mastermind Martyna Kubicz ihre Vision, weswegen sie sich diesen Projektnamen erdacht hat. Doch mit dieser schnöden Beschreibung trifft man nicht mal ansatzweise das, was die 27-jährige Polin auf ihrer zweiten Platte offeriert.

Schnell wird klar: Martyna ist nicht ein weiteres halbwegs talentiertes Stimmchen, das versucht, ihren Teil Fame im Pop-Zirkus abzuschöpfen. In ihrer Musik ist deutlich ein hoher Anspruch einer Frau vernehmbar, die seit Kindesbeinen ihr Künstlerinnendasein zu definieren versucht. Und dass dieser Lebensweg sicherlich nicht zu den leichtesten gehört, merkt man "Shot To Pieces" an.

Das Album ist von einer Dunkelheit geprägt, die an Maya Jane Coles erinnert. Doch während diese sich auf einen schnöden House-Sound ausruht, geht MIN t in die akustische Offensive, präsentiert zwar einen sauber produzierten Sound, dessen subversive Dramatik aber genügend Widerhaken besitzt, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Dafür dringen die brodelnden Basslinien bei "Fight Freeze Flight" viel zu tief in zerebrale Windungen ein, und die maschinellen Sequenzen in "Start Dancing", die flüchtig DAF und Nitzer Ebb zitieren, ziehen einen förmlich auf die Tanzfläche.

Das ist übrigens ein gutes Stichwort, denn zur musikalischen Sozialisation Martynas ist es sicher nicht ganz uninteressant zu wissen, dass sie seit Mitte der 10er Jahre in Berlin lebt, der Techno-Metropole schlechthin. Die Eindrücke, die sie hier aufgeschnappt hat, dürften sich auch in ihren Kompositionen wiederfinden.

Von weitaus wesentlicherer Bedeutung ist jedoch ihr gesangliche Performance, die die musikalischen Verästelungen ihrer Kompositionen zusammenhält: Eine in Neo-Soul und Jazz geschulte, violett-samtige Stimme singt in "These Are Quiet Times" vom wachsenden Hass in sozialen Medien, schmeckt in "The Rhythm Of Your Blues" der Leere nach einer gescheiterten Beziehung nach und findet im fragmentarisch anmutenden Titelsong, den sie an den Anfang dieses außerordentlich fesselnden musikalischen Reigens setzt, in der zerstörerischen Kraft des Liebeskummers den passenden Tenor für das komplette Album.


Dieses ist natürlich unter den Eindrücken der weltweiten Pandemie entstanden, die bei Martyna deutliche Spuren hinterlassen hat. Aus der anfänglichen Entschleunigung ist eine Depression entstanden, mit der sich Mittzwanzigerin rumschlagen musste. Die beklemmend-dystopische Atmosphäre von "Shot To Pieces" ist als direkte Antwort auf diese Zeit zu verstehen.

Im Gegensatz zu den momentanen Heldinnen der Popmusik wie Billie Eilish, die auf Reduktion und Introspektion setzt, ist MIN t ein vom Kampfgeist getriebenes Projekt, das in dem extrem rhythmischen Song "Tiger" die richtigen Worte findet "My Mama told me: just be a tiger. Just rip and tear their flesh and fibre". Nur so hat es Martyna geschafft, zu einer selbstbestimmten Musikerin aufzusteigen, die vom Komponieren bis zum finalen Abmischen der Songs alles selbst in die Hand nimmt. Lediglich bei den Texten, da vertraut sie ihrer älteren Schwester Patrycja, die für die ausdrucksstarken Bilder verantwortlich zeichnet. Immerhin: es bleibt in der Familie.

"Shot To Pieces" ist eine erste Conclusio eines bislang aufregenden Lebens, das aber, sind wir mal ehrlich, mit Mitte Zwanzig doch erst richtig los geht. Man mag sich also noch gar nicht vorstellen können, mit welchen gesanglichen wie musikalischen Innovationen MIN t uns noch beglücken werden. Martyna wird auch dann noch da sein, wenn andere Instant-Fame-Sternchen im großen Wust musikalischer Erscheinungen bereits in Vergessenheit geraten sind.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 26.11.21 | KONTAKT | WEITER: IM GESPRÄCH - THE JOKE JAY>

Webseite:
www.facebook.com/mintmartynakubicz


Kurze Info in eigener Sache

Alle Texte werden Dir kostenfrei in einer leserfreundlichen Umgebung ohne blinkende Banner, alles blockierende Werbe-Popups oder gar unseriöse Speicherung Deiner persönlichen Daten zur Verfügung gestellt.
Wenn Dir unsere Arbeit gefällt und Du etwas für dieses kurzweilige Lesevergnügen zurückgeben möchtest, kannst Du Folgendes tun:
Druck' diesen Artikel aus, reich' ihn weiter - oder verbreite den Link zum Text ganz modern über das weltweite Netz.
Alleine können wir wenig verändern; gemeinsam jedoch sehr viel.
Wir bedanken uns für jede Unterstützung!
Unabhängige Medien sind nicht nur denkbar, sondern auch möglich.
Deine UNTER-TON Redaktion


POP-SHOPPING



"SHOT TO PIECES" BEI AMAZON



Du möchtest diese CD (oder einen anderen Artikel Deiner Wahl) online bestellen? Über den oben stehenden Link kommst Du auf die Amazon.de-Seite - und wir erhalten über das Partner-Programm eine kleine Provision, mit der wir einen Bruchteil der laufenden Kosten für UNTER.TON decken können. Es kostet Dich keinen Cent extra - und ändert nichts an der Tatsache, dass wir ein unabhängiges Magazin sind, das für seine Inhalte und Meinungen keine finanziellen Zuwendungen von Dritten Personen bekommt. Mit Deiner aktiven Unterstützung leistest Du einen winzig kleinen, aber dennoch feinen Beitrag zum Erhalt dieser Seite - ganz einfach und nebenbei - für den wir natürlich außerordentlich dankbar sind.


Cover © The Orchard

ANDERE ARTIKEL AUF UNTER.TON
TANYC "TANYC"
ALICE BOMAN "DREAM ON"
MINES FALLS "MINES FALLS"
NEU SIERRA VS. MARISSA NADLER
DELGRES VS. CHRISTINE SALEM


Rechtlicher Hinweis: UNTER.TON setzt auf eine klare Schwarz-Weiß-Ästhetik. Deshalb wurden farbige Original-Bilder unserem Layout für diesen Artikel angepasst. Sämtliche Bildausschnitte, Rahmen und Montagen stammen aus eigener Hand und folgen dem grafischem Gesamtkonzept unseres Magazins.



                                                       © ||  UNTER.TON |  MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||


Zurück zum Seiteninhalt