NERO KANE "OF KNOWLEDGE AND REVELATION" VS. KATHARINA NUTTALL "THE GARDEN" VS. KARO LYNN "A LINE IN MY SKIN": HÖRT AUF DIE STIMMEN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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NERO KANE "OF KNOWLEDGE AND REVELATION" VS. KATHARINA NUTTALL "THE GARDEN" VS. KARO LYNN "A LINE IN MY SKIN": HÖRT AUF DIE STIMMEN

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Man ist geneigt, die Musik von Nero Kane mit Gemälden oder Filmen zu vergleichen. Denn das Dark-Folk-Projekt um Musiker Marco Mezzadri hat sich für einen extrem breitflächigen, cineastischen Sound entschieden, der einen sowohl an Spaghetti-Western, als auch an Arthouse-Streifen erinnert. Dass Nero Kane zu einer Auswahl an Songs auch filmisch wirkende Musikvideos produziert haben, ist da schon zwingend notwendig, unterstreichen sie doch perfekt den Nimbus des Mailänder Musikers, in gesamtkunstwerkhaften Prozessen zu denken.

Nachdem vor zwei Jahren "Glaube" und "Wahnsinn" in ihrem Album "Tales Of Faith And Lunacy" verhandelt worden sind, ist dieses Mal "Wissen" und "Offenbarung" das zentrale Themenpaar: "Of Knowledge And Revelation" setzt Empirie und Religion in ein Spannungsverhältnis. Ein zutiefst philosophisches Thema, das über Jahrhunderte immer wieder besprochen wurde, am tiefgreifendsten und für die Neuzeit essentiell durchgepflügt in der "Dialektik der Aufklärung" von Theoder W. Adorno und Max Horkheimer.

Den geisteswissenschaftlichen Überbau braucht es natürlich nicht, um das dritte Album von Nero Kane zu verstehen. Es genügt schon, sich dem Album voll und ganz hinzugeben und sich auf die Stücke zu konzentrieren. Denn Nero Kane machen keine Songs, sondern fast schon rituelle Huldigungen. Mezzadri setzt dabei erneut auf seine kongeniale Partnerin Samantha Stella, die nicht nur für die Videoclips verantwortlich zeichnet, sondern auch stimmlich das Projekt unterstützt. Besonders ihre Solomomente wie bei "Burn The Faith" oder "The Pale Kingdom" besticht sie mit ihrer hypnotischen Stimme, die viele nicht zu Unrecht als die Reinkarnation von Christa Päffgen alias Nico beschrieben haben. Wie die deutsche Ausnahmekünstlerin, besitzt auch Samantha eine eigenartige Magie in ihrer Stimme, die beschwörend und gravitätisch durch die Songs schreitet.

Vereinfacht könnte man sagen: Samantha verkörpert mit ihrem sakralen Duktus die "Offenbarung", während Mezzadri mit seinem eher irdischen, unafgeregten Gesang das "Wissen" darstellt. Der Hang zur Religion, besonders zur christlichen Symbolik, wird auch in den Videos immer wieder deutlich herausgearbeitet, mit "Sola Gratia" tauchen sie aber richtig tief in die Materie ein: Gregorianische Gesänge und wuchtige Orgelklänge wirken wie der Beginn einer anstehenden Prozession. Wären da aber nicht die sich langsam einschleichenden E-Gitarren, die der ganzen Szenerie etwas diabolisches verleihen.

Wieder einmal bleibt Nero Kane dem Schlagwerk fern. Keine Trommeln trüben den meditativen Genuss von "Of Knowledge And Revelation". An einigen Stellen, wenn die Gitarren sich einer kleinen redundanten Melodie bemächtigen, erwartet man eigentlich den Einsatz von Bass- und Snaredrum. Doch Nero Kane wollen das nicht. Lieber bleiben sie mit ihren Stücken in der Schwebe und geleiten uns mit ihren Songs in eine christlich geprägte Endzeitstimmung, die aber auf seltsame Art und Weise ungemein tröstend ist.

In ähnlich beschwörender Stimmlage trägt auch Katharina Nuttall ihre Stücke vor, fährt aber für ihre musikalische Visionen das volle instrumentelle Ornat auf. Auf ihrem vierten Album "The Garden" tobt sie sich in ganz unterschiedlichen Genres aus. "Lethe" eröffnet die Platte mit flirrendem Tribal-Electro, "The Poison Tree" erinnert an den Bombast-Pop einer Kate Bush und "Velvet Moon" begibt sich ins Trip-Hop-Fahrwasser. An anderer Stelle verleihen schroff-redundante E-Gitarren dem Spoken-Word-Stück "Deep Blue" eine angenehme Kantigkeit.

Unterschiedlicher also dürften die musikalischen Gewänder nicht sein, die sich Katharina Nuttall hier anlegt. Aber sie sitzen wie angegossen, weil sie ihre Stimme trägt. Wenn die Halbnorwegerin singt, eröffnet sich ein eigener, entrückter Kosmos, in dem sie sich zur Gänze hingibt. Ihre Inspiration holt sie dabei von den Alten Meistern wie Charles Baudelaire oder auch, wie ein Song es ganz explizit im Titel trägt, John Keats.

Dabei handeln die acht Songs weniger von konkreten Handlungen als vielmehr von inneren Gefühlszuständen. Alles auf "The Garden", das Albumcover inklusive, setzt die Natur als Metapher für die emotionale Seelenleben ein. Damit steht sie weiterhin ganz in der Genealogie literarischer Romantiker. Die Stücke werden zu affektiven Zustandsberichten, was die stilistische Vielseitigkeit der Songs, aber auch die variantenreichen Vortragsarten Nuttalls erklärt. Was "The Garden" als kongruentes Werk ausmacht, ist der Wechsel der Stimmungen, die sie auf textlicher, stimmlicher und musikalischer Ebene perfekt kombiniert.

Eine solch fein ausgearbeitete Gefühlsgemälde ersteht nur dann, wenn man sein Handwerk sicher beherrscht. Ein Blick in die Vita der inzwischen in Schweden wohnhafte Musikerin stützen diesen Anfangsverdacht. Katharina Nuttall schreibt Soundtracks für Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilme sowie für das Fernesehen, besitzt ihr eigenes Label Frances Records und hat einige akademische Abschlüsse vorzuweisen. Diese Frau weiß also sehr genau, was sie tut.

Ihre Karriere als Sängerin ist dabei nur ein kleiner Baustein. Für "The Garden" hat sie sich ganze elf Jahre Zeit gelassen. Wohl, weil sie volle Auftragsbücher hat, die es ihr aber auch im Umkehrschluss ermöglichen, sich die Zeit zu nehmen, die sie braucht. Das hört man "The Garden" an: Es ist ein in sich schlüssiges, detailverliebtes Werk geworden, bei dem nichts dem Zufall überlassen wurde.

Einen definitiven Masterplan hat Karo Lynn aus Leipzig ebenfalls vorzuweisen. Ihr drittes Studioalbum "A Line In My Skin" ist kein Glücksschuss, sondern das Ergebnis einer Mischung aus außergewöhnlichem Organ und entspannter, schummriger Indie-Pop-Grandezza. Es ist auch eine stilistische Neuasrichtung in Karo Lynns Schaffen. Denn während der Vorgänger "Outgrow" die Akustikgitarre als Hauptklangquelle favorisierte und dem Album damit einen deutlichen Folk-Anstrich verpasste, wird nun auf dem aktuellen Album ein breitflächiger Sound entfächert, der an Bands wie Bon Iver oder The National erinnert.

Im Mittelpunkt steht aber Karos wunderbar sonores Timbre, die entfernt an Tanita Tikaram ("Twist In My Sobriety") erinnert, in Duktus und Phrasierung sich jedoch an die aktuellen Hörgewohnheiten orientiert. Mit der ihr gegebenen stimmlichen Melancholie bekommen Stücke wie "The City Soaked In Grey" eine größere Schwere und Gewichtigkeit.

Man kann in dem an allen Ecke und Enden aufflammenden Weltschmerz eine Reaktion Karos auf die Umwälzungen der letzten Jahre erkennen. Denn das Vorgängerwerk erschien just ein paar Wochen, bevor der erste Lockdown beschlossene Sache war. Die Musikerin singt auf "A Line In My Skin" von Stillständen, vom Verharren, von Katatonie, musikalisch perfekt in Szene gesetzt durch die erneute Mithilfe von Produzent Cornelius Miller, der auch als Schlagzeuger auf dem Album zu hören ist. Man kann nur mutmaßen, aber das dritte Album hätte es vielleicht ohne Corona in dieser Form gar nicht gegeben.

So erfreuen wir uns aber an den überbordenden Klangteppichen, die bereits bei "When All Is Still The Same" oder im leich surreal wirkenden "When I Think I'm Close" in voller Eleganz zu hören sind und durch den Einsatz rockiger Gitarren wie in "Elephant" oder dem intensiven Titelsong eine Erdigkeit erhalten, wenngleich es bei dem dritten Wurf von Karo Lynn immer sehr schwebend zugeht.

Denn "A Line In My Skin" möchte, wie die bereits vorher besprochene Katharina Nuttall und Nero Kane, nicht unbedingt Geschichten erzählen, sondern über Gefühle und emotionale Zustände singen. Das gelingt ihr genauso hervorragend wie den beiden anderen Künstlern. Stilistisch zwar in völlig unterschiedlichen Ecken der Musik beheimatet, eint sie dann doch ihr Gesang als zentrales Gestaltungsinstrument und der Furchtlosigkeit, mit der sie sich in ihre Songs werfen. Drei Mal großes Kopfkino.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 19.12.22 | KONTAKT | WEITER: GREEN LAKE PROJECT VS. AMOUNT VS. TERENCE FIXMER>

Webseite:
www.nerokane.com
www.karolynn.de

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COVER © SUBSOUND RECORDS (NERO KANE), NOVOTON (KATHARINA NUTTALL), ALL ROOMS/EDEL (KARO LYNN)

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