OPERA MULTI STEEL "LES PASSIONS TRISTES" VS. SUNDL "3": ANSPURCH IM CLUB - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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OPERA MULTI STEEL "LES PASSIONS TRISTES" VS. SUNDL "3": ANSPURCH IM CLUB

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Sicherlich haben sich die französischen Wave-Urgesteine Opera Multi Steel aus Bourges, das so ziemlich in der Mitte des Landes liegt, auch nicht erträumen lassen, dass sie seit ihren Anfängen 1985 immer noch unter uns weilen. Zum 35. Geburtstag hat das Projekt ihr erstes Album "Cathédrale" noch mal aufgelegt. Vergleicht man die Songs mit dem aktuellen Album "Les passions tristes", wird einem schnell klar, warum das Projekt um Franck Lopez und seinem Bruder Patrick L. Robin immer noch unter uns weilt.

Schon seit ihrem ersten Album verschmelzen Opera Multi Steel elektronische Musik gekonnt mit akustischen Instrumenten, denen sie fast schon mittelalterliche Klänge entlocken. Die Gegenüberstellung von moderner und tradierter Melodik ist keine bahnbrechende Erfindung mehr. Mittlerweile stellt sich die Frage, wie radikal man diese beiden Pole gegenüberstellt (man erinnere sich an Helium Vola, dem Projekt des Deine-Lakaien-Musikers Ernst Horn, der mittelalterliche Gesänge mit Clubbeats unterlegt hat). Bei OMS verschmelzen beide Pole und werden zu einem amorphen, mystischen Gebilde.

Die zu Beginn eingesetzte analoge Elektronik (das berühmte Casio-Keyboard gehörte ebenso zum Equipment wie die Roland 606 und Yamaha MR 10) hat die Zeit ebenfalls überdauert und findet sich als kleine Tupfer in den aktuellen Stücken, wie beispielsweise das markannte Piepen der Casio-Rhythmussektion bei "A la Messe ou aux Vêpres", das hier nur kurz aufploppt und an die musikalische Sozialisation der Franzosen erinnert. Auch der Gebrauch einiger Sprachsamples wie bei "Toutes en Tous", wo ein von Kindern gesungenes Lied kurzzeitig eingeblendet wird, wirkt herrlich anachronistisch eingebaut. Dieses Stilmittel existiert auch schon seit "Cathédrale".

Insgesamt verzichten OMS auf einen zu starken Gegenwartsbezug in ihren Nummern. Francks Stimme klingt stets leicht körnig, was "Les Passions tristes" einen angenehmen Retro-Charme verleiht. Klanglich an die Neuzeit erinnernde Sequenzen setzt die Gruppe sparsam ein, um der gesamten sakralen Atmosphäre nicht zu schaden. So sind bei "Triomphale" die klaren Claps und vollmundigen Bassdrums zwar ein Hinweis auf die Gegenwart, sein gesamter Aufbau besitzt aber die Ruhe früherer Aufnahmen. Überhaupt will das Album dem scheinbar nichtaufzuhaltenden Trend, Songs in weniger als drei Minuten erzählt zu haben, entgegenwirken. "Les Passions tristes" wirkt mit 13 Liedern und einer Gesamtspielzeit von 65 Minuten für heutige Ohren mittlerweile herausfordernd.

Doch im Tanz vergeht eine Stunde Musik schneller als gedacht, selbst wenn das abschließende "Les Toiles" es sehr ruhig angehen lässt. "Les Passions tristes" überzeugt duruch einen unaufgeregten, aber in die Tiefe gehenden Dark Wave, der in seiner Beschaffenheit tatsächlich einzigartig ist.

Interessant wird es aber dann, wenn die tanzinduzierten Stile der Schwarzen Szene von Künstlern aufgegriffen werden, die sich eher außerhalb des erlauchten Zirleks befinden. Wie Christian Sundl, der auch ein bisschen der Wanderer zwischen den Welten ist. Schlicht als Sundl unterwegs, greift er mit seinem dritten Album, sinnigerweise "3" betitelt, die Techno-Klangkultur auf, durchsetzt sie aber mit einer gehörigen Portion tönerner Apokalypse.

Exemplarisch und auch als Höhepunkt des Albums fungiert der Track "Darker". Der markant synkopierte Beat schiebt eine minimale Moll-Melodie an. Diese entfaltet sich, wird langsam durch die Filter geschickt, bekommt eine durchdringende, hypnotische Sogwirkung, wie der Blick auf sich ständig drehende Spiralbilder. Dazu klingen die rituell eingesprochenen Wörter von Radiateur wie die Beschwörung einer übergeordneten Macht.

Bis es zu dieser musikalisch perfekt umgesetzten dunklen Messe kommt, scheinen aber noch einige wenige Sonnenstrahlen am Horizont. "Diving To The Depths" versprüht - trotz  des tendenziell eher schummrigen Titels - eine gewisse städtische Coolness, während Lina Gärtner mit einem bourgeoisen Ennui den Text vorträgt. Auch "Water" und die Lydia Lunch/Mick Harvey Komposition "Dead River" (Sie merken es, liebe Leser, wir befinden uns hauptsächlich im Wasser) sind zwar weit davon entfernt, auch nur im Ansatz "happy" zu klingen, vermeiden aber doch den großen Weltschmerz.

Ab "Darker" wird es tatsächlich dunkler. "Moon" und das brodelnde "Melt House" quetschen auch das letzte bisschen Licht aus der Sonne, werfen sie hinter den Horizont und lassen die absolute Dunkelheit das Regiment führen. Am Ende ist eben alles "Black", und das feiert Sundl mit zunächst schief klingenden Geigen, ehe eine tippelnde Pianolinie (natürlich im unteren Bereich der Klaviatur angesiedelt) eine morbide Stimmung erzeugt. Dazwischen quietscht und kreischt es immer wieder. Ganz so, als will sich der Musiker selber nicht zu sehr dem Klischee anbiedern und aus den Gothic-Strukturen ausbrechen. Schließlich öffnet sich der Song einem Vierviertelbeat, aus den Pianotöne werden Akkorde und aus der morbiden Stimmung heraus wird ein Tanz auf den Gräbern.

Dieser Track ist, neben "Darker", vielleicht der spannendste, weil seine Interpretationsmöglichkeiten vielfältig sind. Man kann so gar so weit gehen, diesen Song als Negation alles zuvor gehörten zu deuten. "Black" führt die in Noten gefasste Melancholie durch den rhythmischen Bruch ins Absurde, persifliert sie. Was uns als Hörer überlegen lässt, wie sehr wie auf die klangliche Traurigkeit "konditioniert" sind.

"3" versteht sich als Werk, das Hörgewohnheiten hinterfragt. Sundl weiß ganz genau, wie er es bewerkstelligen muss, damit geistige Transferleistungen entstehen. Diese dürfen natürlich auch auf der Tanzfläche passieren. Ein wenig Anspruch im Club schadet schließlich nicht. Zusammen mit Operation Multi Steel wird der Tanz nicht nur zum leeren Ritual, sondern philosophisch unterfüttert. Vielleicht ist das eine utopische Vorstellung. Aber ein bisschen träumen wird doch wohl erlaubt sein.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 12.05.23 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 9/23>

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COVER © WAVE RECORDS (OPERA MULTI STEEL), CUT SURFACE (SUNDL)

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