BIANCA STÜCKER "DE ALCEMIA" VS. GABRIA "GESUNGENE GESCHICHTEN":AM ENDE DER GESCHLECHTERROLLEN
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2005 hat der Schriftsteller Jürgen Lodemann mit "Siegfried und Krimhild. Die Nibelungen" einen bemerkenswerten Roman veröffentlicht. Das klassische Nibelungenlied, wie wir es kennen, weicht einer Sicht, die frei vom römisch-katholischen Einfluss ist. Die Rollen aller Beteiligten werden neu gedeutet, und auch die Stellung der Frau erlebt eine deutliche Aufwertung. Sie wird zum wesentlich aktiveren Part im Gesamtgefüge der vielleicht bekanntesten abendländlichen Sage.
Es ist die vielleicht romantisierte und auch etwas naive Vorstellung, dass die Frau qua ihrer Fähigkeit, Leben zu schenken, das eigentliche starke Geschlecht sein muss. Doch auch in Fragen der allgemeinen Fürsorge tritt die Frau hervor. Das vielleicht prominenteste Beispiel ist Hildegard von Bingen, deren heilkundliche Schriften aus dem 12. Jahrhundert teilweise immer noch Bestand haben.
Von Hildegard von Bingen zu Bianca Stücker zu gelangen, scheint erst einmal kaum möglich. Undenkbar jedoch ist es nicht, dass sich die multimediale Künstlerin von der bekannten Äbtissin, respektive des gesamten Hochmittelalters hat inspirieren lassen. "De Alchemia" folgt einem mystischen Ansatz: Ihre Stücke sind den vier Elementen Feuer, Erde, Wass er und Luft, sowie Edelmetallen und diversen Tarotkarten zugeordnet. Die in deutsch, englisch, spanisch, französisch, lateinisch und finnisch eingesungenen Lieder vermitteln so etwas wie eine Universalität dieses Themas. Die Texte stammen teils von der Künstlerin selbst oder sind diversen alten Schriften zwischen dem 15. und 17 Jahrhundert entnommen.
"De Alchemia" ist ein klassisches Medieval-Folk-Album geworden, das aber dank moderner Produktionstechnik eine klar gegenwärtige Ausrichtung besitzt. Ähnlich wie Faun, Deine Lakaien oder andere in diesem Genre fischende Projekten, bringt Bianca Stücke traditionelle und fast vergessen Instrumente wie Nyckelharpa, Cornamuse, Rauschpfeife und Tagelharpa mit elektronischen Beats und Percussions in Einklang, sodass das Album gleichzeitig von einer fernen Zeit berichtet, die es aber so nie gegeben hat.
Bianca Stückers Musik ist keine Pose, kein derbes Saufgelage, sondern ein feingeistiges, der Natur zugewandtes Werk, das in letzter Instanz versucht, das Leben zu ergründen, um es in einen Einklang mit der Natur zu bringen, um Transzendenz zu erfahren. Es gelingt Bianca Stücker auf eine sehr unterhaltsame und kurzweilige Weise. "De Alchemia" ist teils uraltes Wissen, eingetaucht in wundervollen Klängen und entrückender Poesie.
Geht man den Weg weg von den historischen Fakten und taucht in einen fantastischen Kosmos ein, in der die Kulisse zwar noch das Mittelalter zitiert, die Handlungen aber frei erfunden sind, gelangt man zu Christine Rauscher alias Gabria. Die aus dem wunderschönen Bamberg in Bayern stammende Musikerin bezieht ihre Inspiration nämlich aus diversen Fantasy-Gesichten. Als Gabria die Gabenreiche hat sie bereits bei der spaßigen Miedieval-Truppe Heiter bis Folkig diverse Mittelaltermärkte und Liverollenspiele unsicher gemacht.
Auf ihrem ersten Solo-Album, ein Konglomerat aus Texten, die sie zwischen 2015 und 2021 verfasst hat, reitet die Frau, die sich komplett der Musik und auch den Worten verschrieben hat (man kann sie unter anderem auch als Hochzeitsrednerin, Zermonienmeisterin und Texterin mieten), galant ihr geliebtes Steckenpferd. "Gesungene Geschichten" ist der perfekte Slogan für das, was Gabria im Kern ausmacht: Sie singt mit Hingabe nicht nur ihre erdachten Geschichten, sie taucht mit ihrer glockenklaren Stimme und einer perfekt gesetzten Phrasierung direkt in die Szenerie ein, wird zur Bardin, die dem wißbegierigen Volk auf dem Marktplatz lebhaft und plastisch von kühnen Recken und ihren auszufechtenden Scharmützeln, aber auch von romantischen Begebenheiten und geisterhaften Episoden singt.
"Ein guter Song erzählt nicht nur eine Geschichte - er erzählt eine Teil Deiner Geschichte". So steht es im Inlay der CD, und damit beschreibt sie perfekt die besondere Atmosphäre ihrer Songs, die bei aller Fantasie auch so klingen, als habe die Sängerin all die Abenteuer, Romanzen und Kriegshelden selbst erlebt und getroffen. Gabria wechselt dabei gekonnt zwischen deutschen und englischen Texten. Letztere orientieren sich stark an irische Folk-Musik. Auch die Instrumentierung wechselt von Stück zu Stück, wird in "Proud And Free" sogar extrem archaisch und auf die Perkussion reduziert - ähnlich wie Nathan Evans letztjähriger Überraschungshit "Wellerman", nur eben in gut.
Es braucht nur die ersten Töne von "The Wind That Shakes The Barley" (dem einzigen Song, der nicht von der Musikerin stammt, sondern auf ein Gedicht eines irischen Schriftstellers aus dem 19.Jahrhundert basiert), um zu erkennen, dass Gabria eine mit Talenten beschenkte Frau ist, die ihrem Herzen folgt und eine Musik erschafft, die sich nicht aufdrängt, sondern jeden mit einem Lächeln und offenen Armen empfängt, der sich ihr nähert. Die "Gesungenen Geschichten" sollen, so sagt es der Text auf Bandcamp, einen mitnehmen "in fremde Welten und vergangene Zeiten, die hoffentlich das Hier und Jetzt bereichern." Das tun sie zweifelsohne.
Im Zusammenhang mit der liebevoll gestalteten CD, bei der Gabria im Booklet jeden Song um persönliche Momente in geschriebener Form erweitert, fällt einem das Wort Achtsamkeit wieder ein: Gabria ist eine achtsame Künstlerin, die sensibel ihre Umgebung studiert und diese auch in ihren Texten herzlich umarmt. Das wird nicht nur bei der obligatorischen Danksagung deutlich, sondern auch im Song "To You", das sie während der Pandemie geschrieben hat und darin ihre Dankbarkeit ausdrückt, als Musikerin arbeiten zu können.
Sowohl Bianca Stücker als auch Gabria sind sich ihrer Weiblichkeit und der daraus resultierenden eigenen Genialität bewusst und setzen sie perfekt ein, um ein Frauenbild zu stärken, das über Oberflächlichkeiten wie Bodypositivity oder Gendersternchendebatten hinausgeht. Sie präsentieren sich als überaus sensible und universal denkende Menschen - was eigentlich nicht mehr herausgestellt werden müsste. Doch bis diese Selbstverständlichkeit zur Normalität wird, braucht es noch einige starke Frauen wie in Lodemanns "Siegfried und Krimhild".
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 08.02.22 | KONTAKT | WEITER: CARLO ONDA VS. STRIDULUM>
Webseite:
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COVER © EYGENNUTZ RECORDS/BROKEN SILENCE (BIANCA STÜCKER), PRETTY NOICE RECORDS/EDEL (GABRIA)
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