
KURZ ANGESPIELT 10/25: WHISKEY MYERS, THE ROOTWORKERS, SOLOMON COLE, THE VINE STREET SHUFFLE - ZU DEN WURZELNDie gesamte Popmusik fußt in letzter Instanz auf den Grundpfeilern des Blues. Ihre Akkorde inspirierten einen Elvis Presley vor und 80 Jahren, ebenfalls Musik und dem Rock'n'Roll als schnellen Blues einer breiten Mehrheit zugänglich zu machen. Der Rest ist bekanntlich Geschichte, die aber weiterhin lebendig bleibt, wie die Alben von Whiskey Myers, The Rootworkers, Solomon Cole und The Vine Street Shuffle beweisen - dreiviertel der besprochenen Werken stammen dabei nicht mal aus dem Land des Blues.
Sie nennen es Hypnagogic Pop und wollen eine neue Spielart geschaffen haben. Immerhin: Der traumwandlerische Sound im Lo-Fi-Gewand besitzt ein sehr einprägsames Klangbild, da er diese besondere Phase zwischen Schlafen und Wachen, in der sich die Realität langsam auflöst und der Traumwelt Platz macht, in Noten einzufangen versucht. Alice Cohen und Greg Jamie frönen mit ihren Werken diesem surrealen Klangkonstrukt , wobei Alice mehr den Pop hervorhebt, während Greg eher das hypnagogische Moment ausarbeitet.
Die Tage werden kürzer, die Temperaturen sinken und der erste Herbststurm fegte bereits über das Land. Beste Zeit also, es sich in den heimischen vier Wänden gemütlich zu machen. Anstelle eines Buches wäre auch der Konsum von Tristan Bruschs "Am Anfang" und dem selbstbetitelten Debüt von Alles Exhausted zu empfehlen. Denn hier wiegt das Wort schwer und die Bedeutungen sind mannigfaltig. Zudem besitzen die Alben die perfekte Portion an Weltschmerz, die es für diese Jahreszeit braucht.
COBOL PONGIDE "KOSMODROM" VS. LUCKYANDLOVE "HUMAURA": MENSCH BLEIBENWir sind im Zeitalter der "Mensch-Maschinen" angekommen: Technische Progression hat unser Leben einerseits erleichtert, andererseits auch beschleunigt und vor allem teilweise zu Sklaven der Elektronik gemacht. In diesem Spannungsfeld zwischen humanistischen Werten und neuer digitaler Weltordnung wandeln auch Luckyandlove und Cobol Pongide. Beide zwar im elektronischen Segment aufgestellt, divergieren sie doch stark in ihrer Ausformung. Luckyandlove liebt es üppig, während der Italiener auf rudimentäre Klangkästen einen punkig-knusprigen Electro vom Leder zieht.
Zuletzt zeigten sich die Herbsttage von ihrer schönsten Seite: grau, neblig, trüb. Zugegebenermaßen ist es nicht Jedermanns Geschmack, wenn das Laub welkt und das Sonnenlicht keine Chance gegen die dichte Wolkendecke hat. Diejenigen werden mit den wabernd-träumerischen Sounds von Memory Index, Ynnerspeaker und Pilod dann auch nicht wirklich viel anfangen. Allen anderen melancholischen Seelen können diese drei Alben ein perfekter Begleiter durch die nasskalte Jahreszeit sein.
Keine Zeit für Schönfärberei: Die Welt, in der wir momentan leben, ist sicherlich fern ab von einem utopischen Idealzustand. Alexander Leonard Donat hat seine Sicht auf die Dinge als Assassun ebenso schonungslos in "Retrofate" verewigt. Auch für die französische Musikerin Thalie Nemesis dienen kriegerische Auseinanderstzungen als Ausgangspunkt ihrer EP "Catarsi Apotropaica", der sie aber laut ihres Titels entschieden entgegenwirkt. Ihre Songs sind tönerne Widerstandskämpfe.
VARIOUS ARTISTS "EXTENDED STIMULATION - POP ADVENTURES ON THE DANCEFLOOR 1983-1988": WER HAT DEN LÄNGSTEN?Das britische Label Red Cherry kommt in schöner Regelmäßigkeit mit gehaltvollen Samplern zu allen Facetten der Popmusik um die Ecke. Das Thema Maxi-Versionen haben sie bislang ausgespart. Ist auch schwierig, dieses abgegraste Feld noch mal neu zu bestellen. "Extended Stimulation" gelingt es aber dennoch, eine interessante Zusammenstellung hochwertiger Langfassungen zu präsentieren. Obwohl, oder gerade weil die großen Namen und Hits fehlen.
Dieses Mal haben die zusammengestellten Kurzbetrachtungen keinen wirklichen roten Faden. Zwischen mächtigem Stoner-Rock, entspannten Indie Kleinoden, filigraner Perkussionskunst und todessehnsüchtigem Dark Folk entfalten die vier Alben von Money & The Man, F. Dillinger, Marcel Bach und Nero Kane eine eigene musikalische Vision, die ohne Umwege die Gehörgänge der Rezipientinnen und Rezipienten fein austapeziert und nach und nach immer mehr Besitz von ihnen ergreift.
Wie bitte? Noch einen Nachschlag vom großartigen "Girls Gang"? Dina Summer könnten Gefahr laufen, dass sie mit der dritten Remix-Runde zu ihrem letzten Album den Bogen deutlich überspannen. Doch einmal mehr gelingt den Kolleginnen und Kollegen des Dark-Disco-Projekts überzeugende Neuinterpretationen, die das ohnehin schon superbe Ausgangsmaterial entweder dekonstruieren oder um einige stilistische Aspekten bereichern und quasi en Passant der Remix-Kultur einen neuen Schub geben.
VARIOUS ARTISTS "NIGHTCRAWLER - COLD TRANSMISSION MUSIC REMIXES" VS. "DURCHSTRÖMUNGEN 4 - WELLENBRECHER": ONE-MAN-SHOWSDie Musiker Nightcrawler und Ben Bekeschus sind nicht nur formidabel im Erstellen eigener Stücke, sondern verstehen sich auch blendend auf das Neuabmischen fremden Materials. Ersterer hat diverse Songs von Bands des Cold Transmission Labels durch seine Rechner laufen lassen, während Ben auf "Duchströmungen 4" sein Können im Bereich entspannter Ambient-Dub-Mucke zum Besten gibt. Als Spiralectric interpretiert er ebenfalls Songs anderer Projekte.
"Es wird immer weitergehen. Musik als Träger von Ideen". Die Zeile aus Kraftwerks Stück "Techno Pop" steht nach wie vor felsengleich für die ständige Kontinuität musikalischer Evolution. Denn trotz einer begrenzten Menge an Möglichkeiten harmonischer Tonvereinigungen, sind immer wieder neue und ungehörte Klänge zu vernehmen. Das nebulöse Projekt Dorcas und die norwegischen Årabrot zeigen auf ihren Alben, wie sich Passion und Innovation liebevoll umarmen und zwei meisterhafte Langrillen entstehen ließen.
Für reine Discomusik viel zu intellektuell, für stilles Rezipieren im Kämmerlein viel zu energiegeladen. So präsentieren sich Jakob Häglsperger alias Kalipo, Steffen Linck aka Monolink und Joel Gibb mit seinem Projekt The Hidden Cameras. Ihre Alben verquicken adrenalininduzierte Tanzelektronik mit durchdachten Texten und tiefergehenden Betrachtungen, sodass nicht nur die Beinmuskulatur beansprucht wird, sondern auch der Denkapparat in Gang kommt. Diskothek und Diskurs schließen sich nicht aus.
LEDFOOT "PLAIN SIMPLE HONESTY": WENIG GLÜCK, VIEL LEBENWenn Tim Scott McConnell alias Ledfoot seine zwölfsaitige Gitarre nimmt und anfängt zu singen, geschieht das nicht mit großer Show oder übertriebener Selbstdarstellung, sondern in aller Unaufgeregtheit. Doch was der Mann, den ein wenig die Aura eines Schurken aus einem Westernfilm umgibt, singt, ist an teilweise schmerzlicher Wahrheit nicht zu überbieten. "Plain Simple Honesty" legt den Finger in die Wunde unserer Gesellschaft, bleibt aber auch in der Selbstbetrachtung schonungslos.
Melancholisch-düster, aber auch tanzbar-eingängig präsentieren sich diese fünf Kurzbesprechungen, angefangen mit einer feinen Ansammlung rarer Maxi-Versionen der kultigen Psyche bis hin zu den bewusst anachronistisch gehaltenen Tracks vom noch relativ jungen Raskolnikov. Und wieder einmal wird deutlich: Die seit Dekaden bestehende Schwarze Szene kommt - musikalisch gesehen - immer wieder zu ihren Wurzeln zurück. Warum auch etwas reparieren, was sowieso funktioniert?
Ob sie Kinder der Nacht sind? Jedenfalls produzieren Laura Schen, S Y Z Y G Y X und Dina Summer Songs, deren dichte Atmosphären wahlweise zum rituellen Stammestanz zur Geisterstunde oder als Beschallung in Düsterdiskotheken herhalten können. Dabei begibt sich Laura Schen in die Welt der Zahlenmystik, während S Y Z Y G Y X über die lustvollen Sünden singt. Am Ende bringen Dina Summer mit ihrer zweiten Remix-Scheibe zu ihrem aktuellen Album "Girls Gang" die Leiber zum Schwitzen.
KURZ ANGESPIELT 7/25: DRANGSAL, JULIAN KNOTH, PHILEAS FOGG, KONTRAST, FRONT - NEU- UND WIEDERENTDECKTMal wieder ein bisschen Heimatkunde: In den vergangenen Wochen sind einige feine Alben veröffentlicht worden, die nicht nur die Schönheit der deutschen Sprache offenlegen, sondern zwischen Innerlichkeit und gesellschaftlichen Statement die lyrischen Möglichkeiten ausloten, die sich fernab von massenkompatiblen "reim dich oder ich fress' dich"-Strategien bewegen. Warum also in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Fünf Alben nicht nur für den Deutsch-Leistungskurs.
Die Bedeutung von Alben ist in der Streamingkultur auf ein klägliches Minimum geschrumpft. Umso schwieriger wird es für Musikerinnen und Musiker, seine Hörer über die Länge eines Longplayers bei der Stange zu halten. Dafür braucht es mehr als nur einen Überraschungsmoment. Das Ensemble Élitaire und Rotersand zeigen, wie es geht: mit unorthodoxen Texten (erstere) und unvorhergesehenen Stilerweiterungen (letztere) - und natürlich mit dem Gespür für funktionierende Songs.
Normalerweise ist Fernando Honorato als Vorsteher seiner Gruppe Principe Valiente bekannt. Nun hat er sich erstmals ohne fremde Hilfe an ein Album gewagt, das stilistisch gesehen gar nicht so weit von seiner Hauptband weg ist. Das französische Projekt Feu Follet hingegen liebt die Zusammenarbeit mit anderen Musikern. Sie schaffen auf ihrem neuesten Longplayer den fast schon unmöglichen Spagat zwischen Vielschichtigkeit und Wiedererkennung.